01.11.2021 von Remo Bitzi

Warum der ganze Lärm? LUFF 2021

Die 20. Ausgabe des LUFF Festivals brachte im Oktober 2021 Künstler*innen wie Aho Ssan, Arma Agharta, Container, Hanna Hartman, Jessica Ekomane, Luciano Maggiore & Louie Rice oder Ryoko Akama nach Lausanne. Remo Bitzi besuchte für zweikommasieben das Festival, und er fand sichtlich Freude daran. Zudem erinnerte er sich, was der ganze Lärm eigentlich soll.

Während der Pandemie hatte ich mich zuhause sehr gut eingerichtet: Neue Hobbys, noch engere Verbindungen mit dem engsten Umfeld, geregelte Tagesabläufe auch an Wochenenden und weiterhin viel Musik, Publikationen sowie Kunst fanden ihren Platz in meinem neuen Leben. Der Gedanke daran, diese Umgebung wieder vermehrt aufzugeben, wirkte auf mich eher abschreckend – nicht, weil mir der Gedanke daran Angst machen würde, sondern weil sich die Situation als sehr bequem und angenehm erwies. Im Oktober 2021, nach guten 20 Monaten Pandemie, präsentierte das LUFF seine 20. Ausgabe. Zeit, um vom heimischen Sofa aufzustehen.

Einen Fokus wollten die Musikprogrammator*innen für das Jubiläum nicht festlegen. Stattdessen schmissen sie einige der bisher geltenden Grundsätze über den Haufen: Hat ein*e Künstler*in schon einmal am Festival gespielt? Egal. Ist das Projekt, das eingeladen wird, das extremste im Repertoire der jeweiligen Gruppe? Kann, aber muss nicht sein. Es ging den Macher*innen darum – das zumindest versprach der Text im Festivaljournal –, ein Programm zusammenzustellen, dessen Positionen sich gegenseitig befruchten und so ein grösseres Ganzes ergeben. Na dann.

Das Kerngeschäft des Festivals bleibt dabei das gleiche, nämlich Lärm. Lärm in all seinen Facetten: Lärm erzeugt mit Drums, Drum Machines, gefundenen Alltagsobjekten, eigens gezimmerten Instrumenten, Computern oder dem menschlichen Körper; Lärm im Voraus aufgenommen oder live eingespielt, komponiert oder improvisiert; Lärm, der laut aus den Lautsprechern dröhnt oder aber ganz leise erklingt; Lärm von jungen Künstler*innen, oder von solchen aus der Ahn*innengalerie. Neben all dieser Vielfalt, die mich in den vergangenen zehn Jahren immer wieder beeindruckte – ich besuchte das Festival im Casino de Montbenon erstmals 2012 –, schien das LUFF in diesem Jahr auch vermehrt auf andere Faktoren geachtet zu haben. So fiel beispielsweise auch die etwas grössere Vielfalt bezüglich Herkunft und Geschlecht der Künstler*innen im Programm auf.

Einen inoffiziellen Schwerpunkt gab es dabei auch am diesjährigen LUFF: Die New Yorker Sängerin Lydia Lunch, die neben dem Auftritt am Donnerstagabend im Salle des Fêtes mit dem Schlagzeuger Ian White auch Teil des Filmprogramms war. Gezeigt wurde nämlich Lydia Lunch: The War Is Never Over, Beth Bs Portrait über die No-Wave-Legende. Anders als vor zwei Jahren, als die Nihilist Spasm Band [siehe zweikommasieben #21] ein ähnliches Gewicht im Programm erhielt und mich durch und durch zu entzücken vermochte, funktionierte dieser Schwerpunkt für mich nicht. Deutlich wurde das gleichermassen im Publikumsgespräch nach der Filmpremiere wie auf der Konzertbühne: Ist eine rotzige No-Future-Attitüde aus den 1980er Jahren das, was wir heute brauchen? Lunch scheint komplett aus der Zeit gefallen zu sein. Im Vergleich zu diesem enttäuschenden Programmpunkt fielen die beiden zeitgenössischen Positionen im Musikprogramm, die auf Lunch folgten, umso positiver auf: Ryoko Akama und Jessica Ekomane überzeugten beide mit je eigenen poetischen Präsentationen. Vor allem Akama schaffte eine sublime Erfahrung mit ihren un- beziehungsweise kaum verstärkten Sounds, die sie aus Flaschen, Fernsehern, einem leuchtenden Pendel und weiteren Objekten extrahierte.

Eröffnet wurde das Festival am Tag vor den Auftritten von Lunch, Akama und Ekomane mit einer surrealen Vorlesung des Sound-Poeten Vincent Barras, der einen Text über das LUFF, über Soundsysteme und über das Casino vortrug, der sich allmählich in einem Gewitter aus Feedbacks und anderen (Stör-)Geräuschen verlor. Spoken Word gab es am Eröffnungsabend auch von Moor Mother, die über West-Coast-Beats, House und Noise sprach und sang. Im weiteren Verlauf des Eröffnungsabends schienen die präsentierten Performances immer abstrakter zu werden: Ein nennenswertes Highlight stellte Aho Ssan dar, dessen Sound stark an die Anfänge von Subtext Records erinnerte, insbesondere an Roly Porters grandioses Solodebüt‎ Aftertime.

Erwähnenswert ist auch das tolle frei zugängliche Off-Programm am LUFF, das den niedlichen Namen L’OFF trägt. Untergebracht in einem Zirkuszelt vor dem Casino sorgte dieser Programmteil in diesem Jahr immer wieder für Überraschungen. Beispielsweise mit der Performance von Lorena Stadelmann aka Baby Volcano am Eröffnungsabend oder einem euphorischen Set von Klonbridge, das immer wieder die 160-BPM-Marke durchbrach – nota bene vor 22 Uhr.

Überraschte immer wieder: Das L'OFF-Programm. Bild: zVg

Trotz den mehrheitlich guten Konzerten, die mich auch rasch Lunch vergessen liessen, fragte ich mich während den ersten beiden Festivaltagen immer wieder: Warum nur bin ich nicht zuhause auf dem Sofa sitzengeblieben? Warum strapaziere ich meine Ohren bis ins Unermessliche? Warum teile ich mir die Luft mit Hunderten von (teils hustenden!) Leuten? Warum schlage ich mir wochentags die Nächte um die Ohren? Und ganz grundlegend: Warum der ganze Lärm?

Am dritten Abend, der eine regelrechte Tour de Force war, dämmerte es mir allmählich. Ganze neun Konzerte standen auf dem Programm – und ein Grossteil davon war geprägt von Humor, Spass und Freude. Der experimentierfreudige Klubmusik-Produzent luxxuryproblems im L’OFF-Zelt und Léon Jordy, der in der imposanten Eingangshalle des MCBA ein paar wenige, dafür umso lautere Drones spielte, machten den Anfang. Später zeigte die schwedische Komponistin und Künstlerin Hanna Hartman mit einem sperrigen Setup, wie viel Spass elektroakustische Musik bereiten kann. Luciano Maggiore & Louie Rice überraschten in der Folge – wie schon 2019 – mit einer cleveren und weiterhin extrem reduzierten dreiteiligen Performance. Die Zutaten ihres aktuellen Triptychons: Highly-reflective-Trainingsjacken und Selfiesticks, Stuhl und Bass sowie penetrante «Pssts», die sie um die Gäste schwirrend von sich gaben. Auch der litauische Musiker und Tape-Label-Betreiber Arma Agharta bereitete richtig viel Spass: Outfit (römischer Körperpanzer aus Plüsch plus Elfenohren), Sound (Lo-Fi-Acid mit einem Ambient-Intermezzo gespielt auf einer Muschel) und Attitüde (zwanglos) machten seinen lustigen und lustvollen Auftritt zu einer Offenbarung.

 

Den Schluss des dritten Festivalabends markierte der US-amerikanische Noise-Musiker Ren Schofield aka Container [siehe zweikommasieben #12]. Dieser stand lange Zeit auf meiner persönlichen Will-ich-mal-sehen-Liste. Seine Veröffentlichungen in der ersten Hälfte der vergangenen Dekade, Videos von Live-Auftritten im Netz und Berichte von Freund*innen, die ihn schon gesehen hatten, nährten mein Verlangen, ihn selbst mal live zu sehen – und dies über Jahre hinweg. Doch dann begann mein Interesse an Tanzmusik zu schwinden; die Pandemie tat ihr übriges. «Trotzdem kurz reinhören?», fragte ich mich nach dem krass lauten Konzert des italienischen Duos Lettera 22. «Es ist sowieso schon spät und die Ohren sind ohnehin komplett am Anschlag – warum also nicht…» Schofields Antwort auf Minimaltechno aus den 1990er Jahren – so kündigte das LUFF sein Konzert an – war brutal, kompromisslos, rasant, wahnsinnig. Und der Auftritt schaffte Raum für Katharsis, Ekstase und – nochmals – extrem viel Freude im Publikum. Nach und nach mutierten die Menschen im Festsaal zu Gummibällen, die munter in der Gegend rumhüpften.

Irgendwann wurde mir in diesem hübschen Chaos klar: Genau darum quäle ich mich stundenlang mit diesem unausstehlich lauten Lärm. Um für einen kurzen (und manchmal auch langen) Moment das zu finden, was man nur selten findet: Freude an etwas völlig Absurdem, geteilt mit grösstenteils fremden Menschen. Was daran so toll ist, ist unklar. Klar wurde mir nur, dass das über weite Strecken in meinem bequemen und angenehmen Leben während der Pandemie gefehlt hatte. Das LUFF bewies nun – und das auf seine eigenwillige Art –, dass etwas so absurdes wie lauter Lärm zu Unzeiten auch post-Covid für viel gemeinsame Freude sorgen kann. In dem Sinne: Hoffentlich überlebt das LUFF nicht nur diese Pandemie, sondern auch alles Weitere, das noch kommen wird.