Just als die beiden auf Magazine zu sprechen kommen, stossen Raphael Rodriguez und Julien Gremaud von Think Tank zur Gesprächsrunde dazu. Das Resultat ist ein interessanter Austausch über ein Thema, das oft auf Pro- oder Anti-Digital-Positionen beschränkt wird. Während der Konversation beweist Joe Seaton, der übrigens auch das Bildmaterial zur Verfügung stellte, dass seine Meinungen bezüglich des Themas seiner Musik ähneln. Aussagekräftig, nuanciert und dennoch bescheiden.
Remo Bitzi Wir sprachen gerade über Magazine. Lasst uns doch bei diesem Thema bleiben.
Julien Gremaud Klar. Worüber habt ihr denn gesprochen – Online- oder Print-Magazine?
Joe Seaton Beides. Ich sagte gerade eben, dass für die Art von Magazinen wie ihr es macht, wir gerade in einem goldenen Zeitalter leben. Es gibt viele fantastische Publikationen, die toll aussehen und voller wirklich interessanter Inhalte sind – was online passiert… Vielleicht lesen mehr Leute Inhalte online, aber das ist vergänglicher, weil da mal dies, mal das steht. Es dokumentiert nicht wirklich eine bestimmte Sache. Der Punkt ist, dass physische Magazine eine bestimmte Zeit und einen Ort dokumentieren. Online-Magazine können das nicht. Vorhin haben wir über die Zeit gesprochen, als ich in Glasgow lebte. Ich hatte einen Nachbarn, der, als er auszog, zu meinen Freunden und mir sagte: «Hey Leute, ich schmeisse ein paar Magazine weg, vielleicht interessieren die euch.» Er gab uns diese Box voller Magazine über elektronische Musik. Ich habe sie mir angeschaut. Da waren Künstler wie Jeff Mills, Derrick May oder Laurent Garnier auf den Covers. Und da war jeweils eine Menge Haltung in den Interviews – viel Konfrontation. Es gab Künstler, die Dinge sagten wie: «Das ist grossartig und das ist scheisse.» Heutzutage gibt es zwar viel mehr Inhalte, aber nichts davon ist wirklich an eine gewisse Zeit gebunden. Niemand steht wirklich hinter etwas. Man trinkt eine Tasse Tee und vergisst, was man gerade gelesen hat.
Raphael Rodriguez Da stimme ich grundsätzlich zu. Es gibt jedoch Leute, sogar unter Online-Journalisten, die über Sachen schreiben, die sie nicht mögen. Wenn du als Leser damit konfrontiert wirst, kann das eigenartige Situationen ergeben. Man liest dann über Dinge, die weder der Autor noch der Leser wirklich mögen.
JS Ich wollte nichts gegen den Journalismus an sich sagen. Es gibt einfach Unterschiede zwischen Formaten wie dem, was ihr mit zweikommasieben produziert und Online-Publikationen, die eine Menge an Inhalt kreieren müssen, um zu überleben. Journalisten werden kaum mehr pro Artikel oder Wort bezahlt. Sie müssen zig Rezensionen schreiben, damit sie ihre Miete bezahlen können. Ich glaube nicht, dass man hier die Journalisten zur Rechenschaft ziehen kann – vielleicht eher die Künstler, die nicht so starke Meinungen zu haben scheinen oder zumindest oft sehr ähnliche wie die anderen. Ich las früher ziemlich viel, heute aber nicht mehr. Das Leben ist zu kurz, wenn ich Sachen online lesen würde, hätte ich weniger Zeit um Bücher zu lesen. Es gibt ein paar Magazine die ich mag – The New Yorker oder LRB beispielsweise – aber für mich als Musiker gibt es viele Publikationen, bei denen ich nicht sicher bin, was sie überhaupt aussagen wollen… Wie auch immer, nächstes Thema! [Lacht]
JG Es gibt viele sogenannte Creative Content Medien, die am Ende des Tages unzählige Inhalte generieren und diese zu verlinken versuchen. Ich frage mich, wie diese Blogs und Webzines zwölf News pro Stunde posten und dabei kritisch bleiben können. Gleichzeitig fällt es solchen Publikationen schwer, sich vom Short Story-Format zu lösen, wenn man über neue Tracks und Album Covers schreibt und nicht etwa Essays verfasst.
JS Wisst ihr was Content Farms sind? Da hat man diese Algorithmen und Texte, die gemacht werden, damit Leute draufklicken, so dass diese wiederum besser im Google Ranking abschliessen. Diese Content Farms sind faszinierend – vor allem für Künstler. Kennt ihr diesen Twitter Account namens Horse_ebooks? Das war ein Spam Twitter Account, der Nonsense-Ausschnitte aus eBooks postete. Dieser Account genoss in den letzten drei Jahren viel Aufmerksamkeit und niemand wusste, was dahinter steckte. Die Leute dachten, es wäre ein Bot, der Stellen aus eBooks ausschneidet. Aber ursprünglich war das ein Typ aus Russland, der den Account für Promozwecke seines Verlages benutzte. Dann sah das ein Typ aus Amerika, der den Account übernahm und daraus ein Kunstprojekt machte. Man hatte also folgende Situation: Eine Maschine gibt vor, menschlich zu sein und gleichzeitig gibt ein Mensch vor, eine Maschine zu sein. Das ergibt einen einfachen Loop. Der Typ steht alle drei Stunden auf um etwas zu posten, damit man denkt, es handle sich um eine Maschine. Lange wusste niemand, was das nun ist und ob Horse_ebooks tatsächlich existiert.
JG Es wäre interessant solche Anekdoten auf Blogs zu lesen. Wenn man sich genau anschaut, was es an Blogs so gibt, merkt man, dass die Mehrheit davon sehr konservativ ist. Blogs sind meistens gar nicht so zeitgenössisch in ihren redaktionellen Praktiken.
JS Die Leute nutzen die Möglichkeiten nicht auf eine kreative Art und Weise.
JG Schlussendlich zählen die lediglich ihre Links und die Anzahl ihrer Posts und was via AdWords reinkommt.
JS Ich beispielswiese nutze Twitter nicht wirklich auf eine kreative Weise. Obwohl ich dies könnte. Man kann den Namen seines Twitter Accounts jederzeit wechseln – das ist also etwas, das sich jeden Tag interessant verändern könnte. Darum denke ich, dass es… [Joe ist leicht abgelenkt] wisst ihr… diese… [Pause] Sorry, ich höre mit einem Ohr auf den Track nebenan. [Lacht] Ich wollte diese Platte auch spielen!…Wie auch immer, Twitter ist ein toller Ort um leicht dadaesque Erzählungen zu generieren. Die Plattform ermöglicht es gewisse Aspekte des Internets zu kommentieren, weil sie selber im Internet stattfindet. Mit Facebook anderseits kann man solche Dinge nicht machen. Wobei, es gibt diesen Typen, der hatte ein Projekt namens Facebook Metronomics oder so ähnlich – ich erinnere mich nicht an den exakten Namen. Dieser Typ kreierte diesen Algorithmus, der alle Zahlen von Facebook entfernt. Leute, die Facebook nutzen, sind auf die Anzahl ihrer Likes und Kommentare angewiesen. Da dreht sich alles um diese Art von Interaktion. Dieser Typ entfernte diese Informationen. Vielleicht war das gar nicht als Kunstwerk gedacht. Natürlich versuchen Leute auch Kunst auf Facebook zu machen. Aber, da es eben ein in sich geschlossenes System ist, geht das nicht so einfach auf diese leicht situationistische Weise.
JG Verbummelst du dich manchmal, wenn du online deine Musik zu bewerben versuchst? Und: Denkst du, deine Musik geht verloren, wenn sie online ist?
JS Online zu sein ist ein monumentaler Zeitfresser. Aber es ist auch Spass und viele Leute haben ja Zeit zum verbummeln. Um deine zweite Frage zu beantworten: Ich erwarte nicht, dass sich irgendjemand um die Sachen schert, die ich poste. Natürlich gehen sie verloren – sie sind online! Darum würde mein narzisstisches Ich auch eher Interviews an physische Publikationen geben, als an online Medien. Ich denke: «Shit, hier sind meine Wörter tatsächlich abgedruckt». Das ist wie wenn man eine Platte herausgibt, verglichen mit einer Veröffentlichung auf Beatport. Auch habe ich für die Bücher und Magazine, die ich besitze, Geld ausgegeben. Die nehme ich dann sechs Monate nachdem ich sie gekauft habe wieder in die Hände und schaue sie mir an. Diese Sachen bedeuten mir etwas. Anderseits, wenn ich etwas online lese, dann habe ich am Mittag schon vergessen, was ich am Morgen angeschaut hatte. Und das kümmert mich auch nicht wirklich.
RR Weil da der emotionale Wert fehlt, den man eben hat, wenn man ein physisches Produkt kauft.
JS Man gibt Geld für etwas aus, darum behält man das für eine Weile.
JG Um die analog-versus-digital Dimension im Gespräch zu behalten: Du veröffentlichst deine Tracks auf Vinyl…
JS Ja, aber ich kümmere mich nicht wirklich um diese Optionen. Ich bin diesbezüglich nicht sehr fetischistisch veranlagt. Jedoch mag ich es, ein Artwork zu haben und ich spiele selber Platten – das ist wichtig für mich.
RB Du hast vorhin erwähnt, du hättest an einer Kunsthochschule studiert. Das finde ich interessant, weil ich mich immer frage, inwiefern das jemanden beeinflusst, der elektronische Tanzmusik produziert.
JS Musik zu machen hat nicht zwingend etwas mit Musik zu tun. Es kann viel mehr mit Begriffen und Prozessen aus der Kunst zu tun haben: Wie sind die Dinge geformt, wie wurden sie übereinandergeschichtet. Mehr oder weniger mein ganzes Schaffen basiert auf Prozessen. Die Schnittstellen zwischen den Maschinen, die ich benutze und wie ich den Dingen eine Form gebe, ist einfacher zu verstehen, wenn man sich Zeichnungen und Drucke von mir anschaut. Als ich die Kunsthochschule verliess, fragte ich mich jedoch: «Wieso habe ich etwas studiert, das ich sowieso aus therapeutischen Zwecken machen würde?» Die Kosten für eine solche Ausbildung in Grossbritannien sind fernab von jeder Realität. Ich wollte mich besser ausdrücken können. Ich wollte wissen, wie gewisse Dinge funktionieren. Aber ich weiss nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, während des Studiums gute Musik gemacht zu haben. Die Zeit, in der ich gute Sachen gemacht habe, war nach meinem Abschluss.
RB Als Publikation und auch als Veranstalter können wir ziemlich unbeschwert Dinge veröffentlichen beziehungsweise durchführen. Leute aus meinem Umfeld, die Kunst studiert haben, stehen der Veröffentlichung angespannter gegenüber. Wie siehst du das?
JS Grundsätzlich sollte man sich nicht darum kümmern, was andere Leute denken werden. Ich kenne so viele Menschen, die sich von diesem letzten Schritt im Prozess von Gedanken und Selbstzweifel lähmen lassen; die Neurosen haben wegen dem, wie die Leute ihr Werk wohl aufnehmen werden. Ich anderseits will einfach Sachen veröffentlichen, an die ich glaube. Natürlich versuche ich etwas so gut wie möglich zu machen, aber ich versuche mich nicht in diesem «Könnte ich es besser machen?» zu verlieren. Natürlich könnte ich es besser hinkriegen! Aber in der Zeit, in der ich eine Sache mache, könnte ich auch zwei wirklich gute Sachen produzieren. Platten, die wir heute verehren, wurden teils innerhalb eines Tages gemacht! Einige davon sind wirklich gut, andere sind verdammt grossartig. Das ist menschlich.
RB Wenn du schon davon sprichst: Es gibt schon so viel elektronische Tanzmusik. Wieso noch mehr davon machen?
JS Seit ich mich entschieden habe Musik zu machen, denke ich nicht mehr darüber nach. Es ist einfach mein Leben. Ich denke, ich habe eine Stimme und ich glaube an meine Motivationen. Deshalb mühe ich mich nicht mit diesen Gedanken ab. Man muss an das, was man macht, glauben, sonst häuft man ein Haufen Neurosen an.
JG Inwiefern zählst du das DJing zu deinem Schaffen?
JS Ich fing sehr früh damit an Platten zu sammeln. Ich liebe es, Platten zu spielen, und ich will auch nie live spielen… Ok, vielleicht gibt es Szenarien, in denen ich meine Tracks live vortragen würde, aber eigentlich bin ich an dieser Art von Performance und Präsentation nicht interessiert. Ich finde es besser, Musik anderer Menschen so zu präsentieren, wie man es selber für richtig haltet.
JG Versuchst du damit deine Produktionen nicht allzu ernst zu nehmen?
JS Ich nehme meine Produktionen sehr wohl ernst. Immerhin stehe ich jeden Morgen auf, um daran zu arbeiten. Ich hoffe jedoch, dass die Art und Weise, wie ich die Musik präsentiere, nicht zu gewollt wirkt. Musik sollte mit einer gewissen Mühelosigkeit präsentiert werden. Mit dem Musik-machen ist es so: Man versucht ein Flugzeug zum Fliegen zu bringen. Ist das Flugzeug einmal in der Luft, wird man sogleich hinausgeschleudert und man kann ihm nur zusehen, wie es über einem selbst weiterfliegt. Es wird zu etwas, das man nicht kontrollieren kann. Der Take Off sollte aber so flüssig, so mühelos wie möglich geschehen.
RR Es ist sogar schmerzhaft zu sehen, wenn ein Künstler es zu sehr versucht. Ein Künstler hat vielleicht viel Energie in ein Stück Musik gesteckt, aber das will man einfach nicht wissen.
JS Um so etwas beurteilen zu können braucht man aber ein wenig mehr Distanz. In ein paar Jahren werden wir wissen, was funktioniert hat und was nicht.
RB Grosse Frage! An was aus unserer Zeit wird man sich erinnern?
JS Das bringt uns zum Anfang des Gespräches zurück: Es ist die Aufgabe eines Journalisten zu sagen: «Das ist ein monumentales Werk, woran man sich noch in Jahren erinnern wird.» Ich erinnere mich an die Zeit bevor ich Tanzmusik hörte. Ich spielte Klavier und Gitarre in verschiedenen Bands. Wir spielten Rock und wir lasen Magazine wie Melody Maker oder NME. Die Journalisten, die für diese Publikationen schrieben, hatten krasse Meinungen. Als Leser war das natürlich ein grosser Spass, weil die Sachen schrieben wie: «Ganz ehrlich, das ist das Schrecklichste, was ich jemals gehört habe. Es ist so scheisse!» Die nannten dann sogar den Manager der Band beim Namen und fragten ihn, was er sich dabei gedacht hätte. Es war unglaublich! Diese Vehemenz fehlt heutzutage oft.
RB Ehrlich gesagt, versuche ich es zu vermeiden, über Sachen zu schreiben, die ich nicht mag.
JS Du könntest dir sagen: «Ich hasse das so sehr, ich will eine Kritik darüber schreiben!»
RR Sachen die man hasst, kann man wunderbar auseinandernehmen.
JG Anderseits kann man nach diesen Kriterien Magazine kategorisieren: Es gibt kritische Magazine und solche, die auf der Publikation von News basieren. Erstere schreiben über alles, egal ob sie die Sachen mögen oder nicht, letztere besprechen hingegen nur Sachen, die sie auch toll finden. News-Magazine würden nie ein Album auseinandernehmen.
RB Stimmt. Zu viele Platten werden bei Kritiken mit 4 von 5 Punkten bewertet.
JS Das Bewertungssystem ist problematisch. Vor allem werden die Vorteile eines solchen Systems nicht wirklich genutzt. Wir sprachen vorhin über die Medienindustrie: Ihr habt mit einem Magazin wie eurem viel Unabhängigkeit. Ihr müsst euch an niemanden halten. Ihr müsst nicht schauen, dass ihr jene PR Firma nicht zu sehr verärgert oder jenen Künstler nicht zu hart rannehmt. Ihr könnt machen was auch immer ihr wollt…