Beim Eintreffen am Eröffnungsabend des Festivals hat sich vor dem Casino de Montbenon noch keine grosse Menge versammelt; die Stimmung ist aufgeräumt, schnell trifft man alte Bekannte. Auch 2018 bekennt sich das Lausanne Underground Film and Music Festival zu seinen Stärken: Ein Programm von auserlesenen, widerspenstigen Nischenklängen und -bildern mit Hang zum Transgressiven einerseits und ein lockerer, offener und komplett unblasierter Umgang und Ton andererseits. Das Festival scheint völlig organisch auf der Verweigerung alles Hochgeistigen zu bestehen. Die Feier des Exzessiven, die zumindest sein Inhalt und seine Spielzeiten nahelegen (bereits am Mittwochabend ufert das Programm bis in die Morgenstunden aus), gestaltet sich dabei am Festival selbst recht zurückhaltend.
Der Nachdruck, mit dem sämtliche High-Brow-Attitüden im Keim erstickt werden, manifestiert sich dann auch an der konzertanten Eröffnung im eigentlich Mehrzweckhallen-artigen Festsaal des Casinos, der aber jedes Mal mit Event-technischen Interventionen zu einer sehr angenehmen Konzertlocation umfunktioniert wird und darüber hinaus eigentlich ganz gut klingt. Phill Niblock eröffnete den Abend. Einmal mehr hatte das Konzert des amerikanischen Künstlers leichte Überlänge, was jedoch durch die mäandernden Kleinstverschiebungen in den Drones sowie die immer wieder aufs Neue beeindruckenden Filmaufnahmen, die Niblock jeweils projizieren lässt, mehr als wettgemacht wurde. Marcel Mauss hätte seine helle Freude gehabt an dieser Kopplung von Gesten und Kulturtechniken, am Sähen und Ernten, Fischen und Schlachten, die in der Kombination mit dem scheinbar sich ewig ausdehnenden Sound zu einer Meditation über sich schichtartig überlagernde Lebensweisen wird.
Bildungsbürgerlich-elegisch hätte man nach dem auf Niblock folgenden Auftritt von Bonnie Jones gleich in das Konzert von François Bonnet alias Kassel Jaeger überführen können, wo der elektroakustischen Tradition gemäss über ein Lautsprecher-Arrangement die Sounds präzis und episch zugleich ins Publikum fluteten. Das LUFF hat sich jedoch für einen rabiaten Bruch entschieden: Mit der Gendarmery stand ein Comedy-Duo (?) auf der Bühne, das mit platten Witzen und ebenso platten Liedern um die Wette spassmachte. Zumindest für nicht Französisch-Sprechende war das Ganze nicht ganz verständlich – und wenn auch nicht erheiternd, so zumindest sympathisch. Bonnets ebenfalls kurz gehaltenes Konzert danach entschädigte einem so oder so für die Geduld und innerhalb kürzester Zeit gab sich das versammelte, sich im Schneidersitz um das Tischchen des Meisters postierte Publikum den Kompositionen hin. Ein wunderbares Konzert.Tags darauf – und nach einigen gegönnten Sonnenstunden – versammelte Bonnet im Garten vor dem Casino bei schönstem Wetter ein kleines Grüppchen, um in diesem Setting aus seinem Essay L’inframonde (auf Englisch bei Urbanomic erschienen unter The Infra-world) zu lesen. Dem zentralen, ästhetischen Argument der Schrift – die gleich jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle liegenden Phänomene als Teil unserer Welt und nicht jenseits von dieser zu begreifen – zu folgen, war dem Grossteil der Anwesenden sicher vergönnt. Etwas kürzer hätte man die Lesung jedoch durchaus halten können; wäre dann doch auch Platz für einige Nachfragen geblieben. Diese wurden jedoch in bierseligen Gesprächen bis in den Abend hinein weiterverfolgt.
Etwas angeschlagen ging es in den Filmvorführungssaal. Dort offenbarte sich eine streitbare Qualität des Festivals, bei der man sich mit zunehmender Zeit nicht mehr sicher sein konnte, wie es sich diese zu bewahren gedenkt. Kurz eingeführt, wurde das nihilistische und bis zur Unerträglichkeit rassistische Machwerk Africa Addio aus dem Mondo-Genre der 1960er Jahre gezeigt. Sämtliche Vorurteile und Klischees bedienend, steigert sich dieser Pseudo-Dokumentarfilm in schnellen Schnitten zur brutalen und sexistischen Raserei. Der Exzess und das Ausschlachten sämtlicher Tabus, die wie auf Speed gedrehten, unbestreitbar kinematografisch anspruchsvollen Sequenzen eines Vulgär-Western der mit Planwagen ausziehenden Weissen im sich dekolonialisierenden Afrika: Hier wird mit beiden Händen aus kolonialen Phantasien geschöpft, quer durch die damalige Film-Ästhetik gesamplet und mit Inbrunst auf machoide Affekte gesetzt. Das Schock-Kino der 60er-Jahre wird so im Zeitalter einer sich über nihilistische Online-Kulturen konstituierenden, neu-rechten Szene zu deren kulturellem Urvater (patriarchaler pun intended).
Das Erbe von Bataille scheint beim Filmprogramm des Festivals dementsprechend am Deutlichsten durch – jenseits von Afrika findet sich darin auch Torture Porn, jede Menge Kultisches und Okkultes, sowie anderweitig kulturell Anstössiges, Ausgeschiedenes und Ausgestossenes. Hier findet sich das Festival in Zeiten zurückversetzt, als Transgression noch ein Vorrecht der radikalen Avantgarde war, der man in der Retrospektive gerade etwa in der Noise-Szene auch streckenweise arg unreflektiert frönte. Es fragt sich, ob das LUFF hier schon ins Museale driftet – was vor allem nach einer Erhöhung der Kulturfördergelder schreien würde. Jedoch kann sich das Festival der Überschreitung und Verausgabung durchaus auch jenseits genre-immanenter Klischees widmen – das zeigte das klare Highlight der ersten Festival-Hälfte. Das Konzert der französischen Klangkünstlerin Meryll Ampe war eine kaum zu bändigende, schlicht überwältigende Erfahrung! Von Noise-Spitzen durchschossene Bass-Gewitter liessen das Publikum sprachlos und durchgerüttelt zurück. Hier fand das Festival zu einem seiner gegenwärtigsten Momente — chapeau!