21.02.2015 von Guy Schwegler

Professor Genius — Bilder, Kontext, Zeit

Vom 27. bis 29. April 2013 residierte Jorge Velez aka Professor Genius bei zweikommasieben in Luzern. Im Rahmen des Aufenthaltes spielte er ein Live-Set im Keller des Sedels, welches keine Wünsche offen lies und vor allem in seiner Vielseitigkeit überzeugte.

Ein wenig Überzeugung brauchte es hingegen noch um einen scheinbar vorhandenen Gegensatz in Jorges Werk aufzulösen : Ein mit der New Yorker L.I.E.S.-(Post)-No-Wave-Szene verbundener Musiker präsentiert uns zwei Alben, die so gar nicht der Idee jener Szene entsprechen, die jeden Bezug und jedes Raster ablehnt. Denn auf den MMT Tape Series 1 zeigt uns Jorge sechzehn Tracks, welche zwischen 1996 und 1999 produziert wurden und die gleichzeitig nach «damals», «jetzt» und so vielem Anderem klingen. Weiter bringt er uns mit Hassan den Soundtrack 2 zu einem imaginären Film über einen Assassinen-Kult im 14. Jahrhundert. Beides also Werke, die Geschichten erzählen und Referenzen schaffen.

Um sich von der Vereinbarkeit dieser beiden Punkte überzeugen zu lassen führte zweikommasieben-DJ und -Autor Guy Schwegler, nach der Party im Sedel, ein ausgiebiges Gespräch mit dem netten Herrn aus New Jersey.

Guy Schwegler Du hast während deines Live-Sets sehr viele verschiedene Tracks gespielt – von den hypnotischen Hassan-Stücken, über Disco-Angehauchtes, bis hin zu hartem Techno und Off-Beat-Sachen. Repräsentieren diese Teile verschiedene Abschnitte deines Schaffens ? Oder wieso scheinen sie so verschieden zu sein ?

Jorge Velez Ich mache viele verschiedene Arten von Musik. Die Idee bei den Live-Shows ist, diese zu repräsentieren. Es gibt aber noch viele Sachen, die ich gerne spielen würde, welche aber schwierig im Live-Kontext zu reproduzieren sind. Weil diese sind … [  überlegt kurz ] eher Studio-Projekte. Bevor ich das Live-Set zusammenstellte, überlegte ich mir, was ich früher an Live-Sets von anderen Leuten mochte. Ich mochte es jeweils, wenn Sachen gespielt wurden, die ich schon kannte. Mit der Zeit hat sich dies jedoch verändert. Und es sollte auch damals nicht so sein, dass jemand, der über die Jahre hinweg viel Musik produziert hat, ein neues Album live vorträgt und dann zum Schluss noch seine Hits spielt. Ausgewogene Sets gefielen mir immer. Alte und neue Sachen, unveröffentlichtes Material…

GS In den Reviews der MMT-Serien las ich immer wieder, dass einige der Sachen darauf nach Drexcyia klängen 3 und andere nach…

JV … Actress ? … oder nach Lee Gamble ? Und dass die Musik so klingt, weil die Person hinter MMT sich wohl viel Musik dieser Produzenten angehört hat ?

GS Genau. Das ist ja insofern spannend, weil du die Sachen auf MMT zwischen 1996 und 1999 produziert hast. Und die Leute, die die Reviews schreiben, sagen somit, es klingt wie « damals » und …

JV … wie « jetzt » ?

GS Ja.

JV Das ist toll ! Ich hab das aber nicht geplant. Diese Sachen lagen einfach – in Form von Tapes – in meinem Zimmer. An grosse Teile die da drauf waren, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Irgendwann hab ich dann einfach Nacht für Nacht die Tapes auf meinen Computer überspielt, die Tracks voneinander getrennt und sie gemäss den Bezeichnungen auf den Boxen benannt. Nach etwa einem Monat machte ich auf Ableton einen kleinen Mix daraus – zum Spass. Der Mix war lustig und einige der Sachen waren nicht mal so schlecht – aber ich dachte : move forward. Ich stellte den Mix online und Legowelt hat ihn sich runtergeladen. Er schickte mir eine E-Mail – wir kannten uns zu dem Zeitpunkt schon – und fragte mich, was das sei. Daraufhin erzählte ich ihm die Geschichte : Dass ich die Sachen in den Neunzigern produziert hätte, wie ich lernte Musik zu machen, wie ich jeden Abend Spass hatte … Er mochte die Musik und fragte, ob er sie an ein paar Leute weitergeben könne. Ein paar Monate später bekam ich eine Nachricht von Rush Hour. Die Leute vom Label meinten, die Musik wäre wirklich «vorwärtsdenkend» – sie mochten die Sachen einfach. Das war für mich unglaublich, denn ich würde dann irgendwo da oben sein – zusammen mit Anthony Shakir und den Burrel Brothers 4. Die Platten wurden also veröffentlicht und die Leute mochten sie wirklich. Ich glaube aber nicht, dass MMT dieselben Leute anspricht, die die L.I.E.S.-Sachen mögen. Ich denke, die Leute hören sie sich ganz einfach als Musik an, jeder mag etwas anderes davon – einige kaufen nur ganz bestimmte Maxis 5 : Beispielsweise die House-Sachen oder die eher abstrakteren – es ist für jeden etwas dabei und darüber bin ich glücklich. Aber das war ja nicht der Plan ! Wann immer ich Musik mache, versuche ich Sachen zu kreieren, die nicht nach etwas klingen, das ich schon irgendwo gehört habe. Für mich ist das die originale Intention von Techno – insbesondere der Detroit-Schule. Ich glaube, es war Juan Atkins, der sagte : « Techno soll etwas sein, das man noch nie zuvor gehört hat » 6 . Daran habe ich oft gedacht, als ich damals Musik machte – und das tue ich heute noch. Es ist also reiner Zufall – dahinter steckt kein Marketing. Ich mache einfach meine Sachen und bin glücklich, wenn die Leute es mögen.

GS Wie stehst du zum Begriff « Bedroom Producer » ? Was denkst du, ist der Unterschied zwischen damals und dem, was heute als Bedroom Produktion bezeichnet wird ?

JV Ich bin noch immer ein Bedroom Producer. Ich mache noch immer im selben Raum Musik, in dem ich auch damals die Tapes aufgenommen habe. Ich glaube, es ist nichts Schlimmes, Bedroom Producer zu sein – das ist einfach eine Bezeichnung, welche die Leute kreieren. Es ist ok, wenn es diesen Leuten dabei hilft, einen Artikel zu schreiben oder Platten zu verkaufen. Diese Bezeichnung vermittelt vielleicht ein Bild von einem Typen, der in seinem Zimmer sitzt – für sich alleine, mit seinen Kabeln und Geräten. Mein Zuhause ist gleichzeitig mein Studio – das ist der Ort, an dem ich arbeite. Man sagt ja auch nicht « Bedroom Painter », nur weil jemand zu Hause malt. Wie auch immer, viele Tracks, die ich mag, wurden ebenfalls in Schlafzimmern gemacht; zum Beispiel Private Plane von Thomas Leer 7 – kennst du den Song ?

GS Nein.

JV Er hat diese Stücke unter der Decke aufgenommen – weil seine Freundin bei ihm im Bett war und schlief. Auf diesem Track ist dann auch zu hören, wie er flüstert – halt einfach, weil er sie nicht aufwecken wollte. Das ist also eine richtige Schlafzimmerproduktion. Und obwohl sie unter diesen erschwerten Umständen entstand, ist sie so reich und schön. Es kommt also nicht darauf an, wo etwas gemacht wird.

GS Aber gerade wenn wir jetzt den Aspekt der schlafenden oder eben nicht schlafenden Freundin nehmen, dann hat das Schlafzimmer und damit verbundene Produktionen doch einen gewissen mystischen Teil ?

JV Ja, absolut. Brian Eno 8 sagte vor langer Zeit – nimm mich nicht beim Wort, ich paraphrasiere : « OK, du hörst dir Miles Davis an und du liebst eines seiner Alben – vieles davon magst du, weil du die Hintergrundgeschichte dazu kennst. Du weisst, wie er so drauf war und so, vielleicht was er zu Mittag ass, als er die Platte aufnahm, was die Geschichte ist. Aber was, wenn du das alles vergisst ? Was, wenn du irgendein Typ in der Wüste bist und du hörst diese Musik zum ersten Mal. Du weisst nichts über die Typen, die das gemacht haben oder den Kontext dazu. Wie wäre das dann für dich ? » Wenn man sich in diese Position begibt, die Geschichte hinter der Musik vergisst und man sich die Musik einfach anhört, on its own terms, dann sollte sie noch immer etwas hergeben, das man sehr mag. Hintergrund ist toll, Kontext ist toll, aber es beeinflusst nie, wie ich etwas höre. Detroit-Platten zum Beispiel : Als ich angefangen habe, diese Sachen zu hören, hatte ich eine Vorstellung, eine Fantasie davon, wie Detroit sei – die verlassenen Strassen, die Leere, die Traurigkeit und all das… und die Roughness. Aber jetzt denke ich nicht mehr so. Ich war in Detroit. Ich habe die Stadt gesehen und sie ist nicht wie in meiner Fantasie – und auch Europa ist nicht wie in meiner Fantasie.

GS Aber wenn du jetzt sagst, man soll die Musik nur als solche hören – wie kamst du auf die Idee, den Soundtrack für einen fiktiven Film zu produzieren ?

JV Die entstand während einer lustigen Diskussion – ein paar Drinks waren auch im Spiel. Ich wurde gefragt, ob ich eine Platte machen möchte. Es entstand eine Diskussion und mir wurde vorgeschlagen einen imaginären Soundtrack zu machen. Und um das ganze witzig zu gestalten überlegte ich mir : « OK, es gibt da diesen Film über den Kult der Assassinen, der in den Achtziger Jahren in Italien gemacht wurde » – ich hab das einfach schnell erfunden, spontan. Ich dachte, es wäre noch lustiger, diese Vorstellung eines Films auszuarbeiten – mit den Sets, dem Cast, einem Plot – und dann vorzugeben, ein Soundtrack-Komponist zu sein. Als diesen habe ich nur beschränkt Geld zur Verfügung, wenige Instrumente – das war für mich ein Weg meine Palette einzuschränken. Das war der Ausgangspunkt. Als die Platte dann rauskam, stand da nirgends drauf, dass das ein imaginärer Soundtrack sei. Ich hab das nur in Interviews erwähnt. Es ist nicht wichtig. Man kann sich die Platte einfach anhören – on its own terms. Einige Leute denken auch, Hassan sei ein anderer Name, den ich benutze.

GS Einen Soundtrack zu einem Film zu machen war also funktional – ein Weg zur Reduktion ? War das beim stark orientalischen Modus der Ausführung ebenso ? Jetzt bezogen auf einen Hintergrund wie den des Arabischen Frühlings ?

JV That shit just happened. Ich höre seit einer langen, langen Zeit Musik aus dem Orient – ich fand das immer toll. Aber genauso höre ich auch Country und Jazz. In dem Moment habe ich einfach entschieden, es so zu machen – eigentlich war das noch vor dem Arabischen Frühling …

GS Wie beeinflusst dich das Setting von New York – oder New Jersey ?

JV Als ich jünger war, ging ich oft in Klubs. House war immer da. An was ich mich von damals, als ich die MMT Tapes gemacht habe, erinnere : Es war diese Ära von Twilo 9. Es liefen frühe Daft Punk-Sachen, Filter-Disco – viel Sachen aus Frankreich – und wir tanzten zu Basement Jaxx, suchten Zuflucht im House und Deep House. Ich liebe diese Sachen, aber ich glaube nicht, dass meine Musik danach klingt. Mein Output wird durch meine Erfahrungen beeinflusst. Ich glaube die Stadt, in der man lebt, beeinflusst einen. Der Klang der Nacht : Man arbeitet an der Musik, draussen sind Sirenen zu hören, Feuerwehrautos, Leute, der Sommer. Die Stadt ist definitiv ein Einfluss.

GS Was ich direkt mit New Jersey in den Neunzigern verbinde, ist Kerri Chandler – und dieser stark von Gospel und Soul beeinflusste Deep House. Danach klingen deine Sachen ja überhaupt nicht.

JV In Bezug auf Jersey mochte ich insbesondere den swingy Newark-House – die Sachen, die sie im Zanzibar 10 gespielt haben. Das wird jetzt oft wieder gespielt; Sachen von Leuten, deren Namen niemand mehr kennt. Die haben ein, zwei Platten gemacht – Klassiker ! Kerri Chandler ist fantastisch. Ich habe ihn gehört und zu ihm getanzt – ein fantastischer DJ. Aber es gibt natürlich noch so viele andere DJs, die auch unglaublich gut waren. Als ich jung war, konnte man Kassetten von DJs auf der Strasse kaufen, tagsüber, wenn sie nicht am arbeiten waren. Insbesondere in New York… Es gab da so einen Typen – ich hab seinen Namen vergessen – der verkaufte seine Tapes immer neben einem Plattenladen und dann ist man Freitagabend dort vorbeigefahren, hat das Auto an der nächsten Ecke abgestellt, ist zu ihm geraten und hat gefragt, was er Neues habe. Er dann so : « Hier, das ist der Shelter-Mix, und hier der Redzone-Mix » oder was auch immer. Zurück im Auto hat man dann die Kassette reingeknallt und « woooooow ! » Die Mixes waren fantastisch. Und solche Sachen sind ein grösserer Einfluss, als einzelne Platten oder Künstler. Dieser Vibe, New York Techno, Joey Beltram, Lenny Dee – gemacht in den Schlafzimmern von Brooklyn. Rohe, kosmische Tracks.

GS Genau das passiert im Moment ja wieder in Brooklyn – unter anderem auf L.I.E.S.

JV Ja. Ich denke, viele von uns, die solche Sachen machen, haben einen Punk-Rock-Hintergrund. Wir wurden mit der Ästhetik erzogen : « Mach das, was du machst, auch wenn sich niemand darum kümmert ! Orientiere dich nicht an Trends. Irgendwen wird es schon interessieren. » Jeder arbeitet einfach in seiner kleinen Wohnung oder in einem Keller; keinem steht ein riesiges Studio zur Verfügung… Und wir können glücklich sein, dass sich jemand dafür interessiert.

 

1 Jorge Velez: MMT Tape Series: Home Recordings 1996-1999 (Rush Hour, 2012)

2 Professor Genius: Hassan (L.I.E.S., 2012)

3 « tidy bit of lo-fi Drexciyan aquafunk called Number Two, plus a couple of abstract miniatures – the Jamal Moss-like twinkle of Dewy Garden and Big Gray Bldg, which sound like something off Actress’ RIP   » (Boomkat 2012) oder « wiggled like Aphex Twin, tripped like Villalobos » (Rotlein 2012, Review Resident Advisor)

4 Anthony « Shake » Shakir: Frictionalism 1994-2009 (Rush Hour, 2009) und Burrel Brothers, the: The Nu Groove Years Part 1 & 2 (Rush Hour, 2012)

5 Bevor Rush Hour das ganze Werk als Compilation released hat wurden die einzelnen Teile als White-Label Maxis gepresst.

6 Das genaue Zitat dazu wurde nicht gefunden. Juan Atkins erwähnt jedoch in vielen Interviews diesen Aspekt, den Jorge zitiert. Zum Beispiel in einem Bericht des Schweizer Fernsehens über Detroit Techno ( Juan Atkins: Ein Urvater der Techno-Musik  SRF Wissen vom 03.10.1997).

7 Thomas Leer: Private Plane/International (Oblique Records, 1978)

8 Brian Eno: Thinking about Miles Davis in a un-miles davis like way. In: The Wire Dez./Jan 1994.

9 Das Twilo war ein Klub in Manhattan, New York zwischen 1995 und 2001.

10 Das Zanzibar war ein Klub in Newark, New Jersey. Er wurde im August 1979 eröffnet und gilt als der Ort der Entstehung des «Jersey Sounds».