17.01.2020 von Moritz Weizenegger

Les Urbaines 2019 – Austauschplattform für Experimente

Die 21. Ausgabe des Les Urbaines Festivals fand auch vergangenes Jahr während des ersten Dezemberwochenendes in Lausanne statt. An drei Tagen und Nächten wurden in der Westschweizer Stadt Werke der bildenden Kunst sowie Tanz- und Theater-Stücke genauso wie Klubabende mit elektronischer Musik präsentiert – und alles mit freiem Eintritt. Moritz Weizenegger reiste nach Lausanne und erlebte ein Festival, das als Austauschplattform für Experimente funktionierte.

Die Schweiz ist eine Insel. Was für eine das Land umgebenden Wassermasse nicht stimmen mag, zeigt sich hingegen immer wieder in den sozioökonomischen Realitäten des kleinen Landes. So ist auch die Schweiz eine Insel, was die öffentliche Kulturförderung angeht. Dies ermöglicht auch dem jährlich in Lausanne stattfindenden Les Urbaines Festival  während drei Tagen ein kostenfreies Programm anzubieten. Da das Festival grösstenteils von Förderbeiträge vom Austragungsort und einigen externen Sponsoren getragen wird sind die Organisatorinnen nicht auf Einnahmen aus Eintritten angewiesen. Diese Unabhängigkeit ermöglicht es dem Festival auch ein Programm zu bieten, dass sich fernab oder parallel zu einem Mainstream bewegt. All dies galt auch für die 21. Ausgabe des Les Urbaines, die vom 6. bis zum 8. Dezember 2019 stattfand.

An den drei Tage und Nächte präsentierte das Les Urbaines formell Werke der bildenden Kunst, Performance-Stücke zwischen Tanz und Theater sowie elektronische Musik. Die verschiedenen Sparten wurden jedoch nicht rigide getrennt. Es herrscht Interdisziplinarität genauso wie Multimedialität, während sich das Thema des Les Urbaines 2019 der «Discovery» widmete. Auf der einen Seite wagten die sorgfältig ausgewählten Künstler und Musikerinnen Experimente in und zwischen ihren jeweiligen Medien, wobei sie abseits etablierter Formsprachen kreative Blaupausen austauschten. Auf der anderen Seite stand aber auch die Repräsentation von marginalisierten Identitäten im Fokus des Entdeckungsthemas. So schafften die Arbeiten genauso eine Erfahrung von Bewegung und Innovation wie Dringlichkeit.

Aufgrund der unterschiedlichen formellen Eigenschaften und der schieren Anzahl der künstlerischen Projekte, fanden die einzelnen Programmpunkte in mehreren Kulturhäusern Lausannes statt. Daher galt es als Teil des Festivals immer wieder Distanzen zwischen den Austragungsorten zu überwinden und sich bewusst für Arbeiten zu entscheiden. Denn wer den Weg zwischen der Halle Nord de Beaulieu und dem Arsenic auf sich nimmt, um eine weitere Stunde später ins Le Bourg zu pilgern, tut das – wenn nicht aus Gruppendruck oder beruflicher Verpflichtung – aus bewussten Interesse. Die Besucher des Les Urbaines wurden zusätzlich durch die Reise zwischen den Veransaltungsorten dazu aufgefordert, sich abseits der sonst üblichen Festival-Bubble und deren ready-to-eat Infrastruktur zu bewegen. Und so isst man in lokalen Imbissbuden und Restaurants oder verbringt einen freien Nachmittag im Kaffee. Durch diese Entdeckungstouren der Besucherinnen vermag die Stadt Lausanne tatsächlich einen Mehrwert aus dem Les Urbaines zu schöpfen.

Eröffnet wurde das Festival am Freitagabend im Espace Arlaud. Im Museum zeigte das Les Urbaines Werke der Sparte Gegenwartskunst und dies erlaubte den ersten, unmittelbaren Kontakt mit dem Festivalthema. Die Ausstellung schaffte es Diversität zu verkörpern und dabei durch die immersive Präsentation und Gestaltung der Arbeiten nicht voyeuristisch zu wirken oder etwa eine Perspektive des Fremden vorzuführen. Die Werke, die Themen der Identität behandelten, vermochten oft durch Partizipation oder Interaktion eine Verbindung mit der oder dem Betrachtenden zu schaffen.

Ein Beispiel hierfür war die ausgestellte Arbeit Ressurrection Lands von Danielle Brathwaite-Shirley. Eine frei begehbare Videospiellandschaft lud die Besucher dazu ein, an mehreren Computern einzelne Teile der Geschichte einer schwarzen Transgender Figur zu erfahren, die in einer Fantasiewelt an einem Auferweckungsritual teilnimmt. Die Arbeit orientierte sich dabei ästhetisch und mechanisch an einem PC-Rollenspiel. So wurde der Kontext von Identitätspolitik hier schon fast zu einer Art vertrautem Gefühl und zu einer Stimmung, ohne dass dabei eine Perspektive auf etwas Exotistisches entstand. In den 64-Bit 3D-Computergrafiken von Ressurection Lands lag etwas sehr fragiles, fehlerhaftes und “menschliches”. Die Einfachheit der veralteten Computergrafiken und der bizarren Sound-Kulisse der Installation wecken albtraumhaft getrübte Gefühle einer Nostalgie der spähten Neunziger- und frühen Zweitausender-Jahre. Brathwaite-Shirley vermochte emotionale Sensibilität, ein Sinn fürs Immersive und ein Geschick im Storytelling zu verbinden und dadurch die Betrachterin zu berühren.

Immersive Multimedialität zwischen intuitiver Gestaltung und werkimmanenter Referenzen definierten auch das Projekt Tower of Babel des amerikanischen Künstler-Duos SCRAAATCH, das über die gesamte Festivaldauer einmal täglich im Arsenic vorgeführt wurde. Tower of Babel, so erklärte der Werkbeschrieb, sei eine Videoinstallation, die als Austragungsort einer Performance dient. Die am Projekt beteiligten Künstler E. und sowie chuckwumaa sind unter Anderem als Musikerinnen tätig und hauptsächlich bekannt mit ihren Projekten MHYSA (Hyperdub) respektive lawd knows (Halicon Veil, Sci-Fi & Fantasy). Die gemeinsame, installative Performance zeigte nun ein experimentelles Spielfeld im Bezug zur ihrer Musikpraxis: Tower of Babel war eine Erweiterung des jeweiligen Musikbegriffs und dient den beiden als Möglichkeit zur gemeinsamen, künstlerischen Selbstreflexion.

In der Performance, die innerhalb des Tower of Babels dann stattfand, verfolgte man wie E. und chuckwumaa meist abwechselnd, teils simultan, sich gegenübersitzend Musik performten. Die experimentellen, improvisierten Kompositionen wurden mittels elektronischen Instrumenten, Computern und der eigenen Stimme erzeugt. Die Künstler verliessen gelegentlich ihr Equipment und auch den Raum, um einen Metallstab rumzuführen – eine Art selbst-gemachten, übergrossen Selfie-Stick inkl. Smartphone mit laufender Kamera. Über zwei der vier Wände des Aufführungsraums erstreckte sich eine Projektion von Ausschnitten aus Ready-Made-Videomaterial auf dem sich im Dialog befindende Menschen zu sehen waren. Dazu wirkten die wummernde Sub-Bässe, Noise Wände, Drones und Fragmente von endlos weiten Gesangspassagen wie eine gesprochene Sprache, deren Inhalt sich allen Beteiligten jedoch entzog. Dass sich die Künstlerinnen aus dem Raum entfernen und das musikalische Spiel durch das Abtasten des Raumes mittels Smartphone-Stab ergänzten, liess sich als weiterer Faktor von Kommunikation lesen: eine gedankliche Reflexion, weitere Ablenkung, zusätzliche Distanz oder einfach nur Unsinn.

In einem anschliessenden persönlichen Gespräch erzählten E. und chuckwumaa von einer der Quellen des tonlosen Bildmaterials der Videoinstallation: eine Bürgerrechtsrede aus den USA, die genauso im Original auf taube Ohren oder gebundene Hände stiess. Eine explizite, politischen Diskussion versuchten die Künstlerinnen jedoch zu umgehen. SCRAAATCH eröffneten mit ihrer Performance ein weites Feld von Kontexten, die sie jedoch nie direkt verknüpften, sondern den Rezipienten mit dem minimalen Kommentar im Werkbeschrieb zur Interpretation überliessen.

Bei Tower of Babel als auch bei vielen anderen Werken des Les Urbaines wurde so eine gewagt Anti-These zu etablierten Praxen der Gegenwartskunst deutlich. Eine DIY-Ästhetik und die experimentellen Praktiken führten auf der einen Seite dazu, dass kein expliziter Zusammenhang zwischen Form und Idee sichtbar wurde. Auf der anderen Seite zeigten die Werke aber auch nicht zwingend ein Work-In-Progress; es waren keine Zwischenschritt auf dem Weg zum kohärenten Werk, welche die Künstlerinnen vorführten. Beides führte dazu, dass die Arbeiten sich meistens sehr „frisch“ anfühlten und eine Dringlichkeit zur Veränderung, sowie zum Gestalten an sich präsent war. Man fühlte sich als Teil eines performativen Forums, quasi einem Safe-Space von genau dieser Art des Ausprobierens.

Während das Tages- und Abendprogramm sich auf die bildende Kunst sowie Performances zwischen Tanz und Theater konzentrierte, widmeten sich die Nächte des Les Urbaines ganz der Klubkultur. Obschon hier klarer auf ein (auch für experimentellere Spielarten immer mehr) etabliertes Format zurückgegriffen wurde, blieb der Austauschcharakter des Les Urbaines bestehen. Die Musiker zeigten eigenständige und eigensinnige Formen von Klubkompositionen und Performance-Formaten zugleich auf. Ein solcher Austauschgedanke im Nachtleben und das damit verbundene Experiment war aber fernab von seriösem Kinnkratzen und ernstem Hinhören. Denn die Nächte des Festivals bedeuteten auch sehr viel Spass für das Publikum des Les Urbaines, was etwa W00dy und, TAAHLIAH freitagnachts im Les Dock oder Ven’3mo und Oli XL am Samstag im Le Romandie bewiesen. Im Le Bourg war es wiederum das DJ Set von Tati au Miel, das am frühen Sonntagmorgen den stärksten Eindruck hinterliess.

Bei Tati au Miel trafen Harsh-Noise, Trap, Gabber und Jazz aufeinander – und dies anscheinend ohne dass die Stücke jeweils mit Kopfhörern vorgehört wurden. Sie schienen schlicht und einfach auf die gängige DJ Praxis zu verzichten. Oder anders formuliert: Wieso den Raum und das Publikum «lesen», wenn man alles direkt hören kann? So wurde ein sorgfältig aufgebauter euphorischer Tanzfluss durch Gewehrsalven-ähnliches Mixing unterbrochen, um den Störeffekt direkt an der Gesamtstimmung des Raumes zu testen. Der Höhpunkt der anarchistischen und anachronistischen Performance von Tati au Miel war als SUUTOO, die am Freitag im Les Docks ihre Arbeit präsentierten, nun die Bühne des Le Bourgs betraten und die Monitorboxen in die Richtung der Tanzfläche drehten. Die ausbalancierte Raumakustik fing an zu bröckeln, während die Klubbesucherinnen verstört den Raum verliessen oder eine volle Ladung Krach genossen – bis der Abendverantwortliche des Klubs die Monitoren erneut in ihre Ausgangsposition drehte.

Tati au Miels Auftritt zeigte die expressionistischen Möglichkeiten des DJings: Die Gäste wurden in eine chaotische Welt geworfen in der eine Energie spürbar war, die sich stellenweise selbst Tati au Miels Kontrolle zu entziehen schien. Zusätzlich liess ebendiese Performance auf die etablierten Machtstrukturen innerhalb des Klubkontexts reflektieren. Die Künstler und das Publikum befinden sich üblicherweise jeweils in einer bestimmenden oder einer bewerten Position. Der Kontrollverlust des DJs führte nun zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Zuhörerinnen und Künstlern. Tati au Miel erlebte genauso Überraschungen, wie es beim Publikum der Fall war. So war es auch keine bewusste Entscheidung keine Kopfhörer einzusetzen, wie Tati au Miel im späteren Gespräch verriet. Vielmehr funktionierten sie schlicht und einfach nicht – ein reiner Zufall also, so Tati au Miel. Dieser führte genauso zum gelungenen, dissonanten Charakter des DJ-Sets, wie sich dieses wiederum harmonisch in das gesamte Erlebnis des Les Urbaines einfügte. Und als die Lichter im Le Bourg angingen, die letzten Gäste aus dem Raum gebeten wurden, zeigte sich, dass ein Grossteil der noch anwesenden Menschen die zum Festival beitragenden Künstlerinnen und Musiker waren. Verbindungen unter ihnen bestanden teils bereits oder wurden neu im Rahmen des Les Urbaines geknüpft. Austausch fand so nicht nur im gegenseitigen Präsentieren der künstlerischen Arbeit statt, sondern auch in dem persönlichen Kontakt zwischen den Menschen.

Gegen Ende des Les Urbaines lässt sich auf ein reichhaltiges Programm mit hohen künstlerischen Anspruch zurückschauen, dass einen Fokus auf zeitgenössische Ästhetik und brisante soziopolitische Diskurse richtet. Nebst der deutlich spürbaren Handschrift der Kuratorinnen ist es die Tatsache des freien Eintritts zu den Veranstaltungen, die das Festival einzigartig machen. Als von Lausanne geförderetes Festival funktioniert Les Urbaines daher als institutionelle Instanz im Kunstbetrieb der Stadt, wodurch eine Plattform zum Austausch für lokale sowie auswärtige Akteure geboten wird. Dies trifft besonders für die eingeladenen Künstler, Musikerinnen und Kuratoren zu – oder auch für Presseleute. Das Publikum hingegen scheint eher selten diesem Austausch wirklich beiwohnen zu können. Ein selbstreflexives Vermittlungskonzept, das die Rolle der Besucherinnen im Diskurs rund um die Formen zeitgenössischer Kunstpraxen als aktiv annehmen würde, wäre eine Möglichkeit, den Mehrwert des Festivals zu erhöhen. Der Standard, den Les Urbaines stets künstlerisch und kuratorisch definiert – ein Fördern vom Experimentellen, Innovativen oder der alternativen Gestaltung – wurde im Vermittlungskonzept leider nur bedingt sichtbar. Eine Ausnahme bildeten die angebotenen Workshops, wobei auch diese durch die klar definierte Expertenposition der Leitendem einem hierarchischen Prinzip folgten. Das Les Urbaines scheint sich in erster Linie für die am Festival beteiligten und unmittelbar teilnehmenden Akteure stark zu machen. Die künstlerische Leistungen und durchaus ein erlebter Publikumserfolg weist dies aber weiterhin als eine faire Position aus – auch und wohl insbesondere in einem Land, das über eine reichhaltige, öffentliche Kulturförderung verfügt.

Alle Fotos wurden vom Les Urbaines bereitgestellt.