Das Gespräch zwischen Guy, Marc, Tom und Ed im Berghain-Backstage stand unter dem Zeichen des Festival-Themas «Dis-Continuity»: Unterschiedliche Zugänge und Fragen zu Kontinuität und Diskontinuität strukturierten dessen Verlauf.
«Kon·ti·nu·i·tät: die,-:lückenloser Zusammenhang, Stetigkeit, Fortdauer; ununterbrochener, gleichmässiger Fortgang von etwas; Ggs. Diskontinuität» 1
Guy Schwegler Da das ganze CTM Festival, in dessen Rahmen ihr auftretet, sich dem Begriff der «Dis-Continuity» widmet, frage ich mich, inwiefern ihr in eurem jeweiligen Schaffen Kontinuitäten seht? Wo finden sich Startpunkte, welchen Linien seid ihr gefolgt?
Edward Russell Was meine Tessela-Produktionen als gemeinsamer Referenzpunkt verbindet, ist wohl der frühe Mitte-Neunziger-Hardcore 2. Das kontinuierliche Element dabei ist die Programmierung der Perkussion.
Tom Russell Für mich ist es die Techno-Drum 3, ganz einfach. Ich hab mit vielen Stilen rumgespielt und experimentiert, aber immer unter den Rahmenbedingungen dieses Drum-Sounds und seiner Rhythmik. Ich mag es, neue Stile darin einzufügen und sie von da aus weiter zu erkunden.
ER an TR gerichtet Auch dein MPIA3- Projekt funktionierte so. Das war nur Kick-Drum, High-Hat, 303 – also immer dieselben Komponenten.
TR Das ist eine Praktik der reinen Kontinuität: Puristische House-Beats. Am Ende geht es darum, was man mit den Maschinen innerhalb dieses Techno-Rahmens machen kann.
Marc Schwegler Würdet ihr eure Arbeit also auch als Teil des so genannten Hardcore-Kontinuums begreifen?
Der englische Musikjournalist Simon Reynolds veröffentlichte zwischen 1992 und 1999 eine Serie von sechs Essays im Wire Magazine. Darin behandelte er die zum jeweiligen Zeitpunkt aktuelle UK-Rave-Musik und Tendenzen darin. Während des Schreibprozesses fiel ihm eine durchgehende Kontinuität innerhalb der verschiedenen Genres auf 4. Egal ob früher Jungle, 2-Step oder aktueller Grime: Die Basis bleibt für Reynolds eine bereits im frühen Hardcore zentrale Ästhetik. Obwohl sich das Tempo ändert, neue Produktionstechniken entstehen und verschiedene Inspirationsquellen verwendet werden, bleiben die Kernelemente der Musik für Reynolds die selben: «(…)beat-science seeking in the intersection between ‚fucked up’ and ‹groovy›; dark bass pressure (…) In a profound sense, underneath two decades of relentless sonic mutation, this is the same music, the same culture.» 5
TR mit Blick zu ER Wahrscheinlich wirst jetzt eher du dein Ding im Hardcore-Kontinuum verordnen…
ER Hmja…
TR Ich sehe bei mir Einflüsse aus der englischen Dance- und Rave-Musik. Bezeichnen würde ich meinen Sound trotzdem eher als international.
Ein Irritationsmoment: Reynolds Konzept stösst nur bedingt auf Gegenliebe bei den Russell-Brüdern. Damit sind die beiden nicht allein: Auch bei anderen Szene-Protagonisten ist die Behauptung eines Kontinuums auf einigen Widerstand gestossen 6. Der Grund dafür ist wohl die pessimistische Implikation der Matrix: Denkt man sie zu Ende (was Reynolds auch tut 7), führen die Verbindungen und Zusammenhänge der verschiedenen Stilrichtungen eben nur zu Einheitsbrei: Als gäbe es auf längere Sicht in der Kontinuität keine Innovation, Spannung oder Neuerung zu erwarten.
GS Wo sind denn umgekehrt in eurem Schaffen Diskontinuitäten zu finden? Wo gibt es Spaltungen und Unterbrechungen? Du, Tom, hast ja beispielsweise dein MPIA3-Projekt beendet…
TR Ich realisiere gerne Projekte, die einen Start- und Endpunkt haben. Truss ist das Kontinuum, der Name, den ich als DJ schon immer benutzt habe. Es ist der Name, der in den meisten Produktionen auftaucht und mit dem ich auch nicht aufhören möchte: Er bezeichnet mein Hauptprojekt. Aber dazwischen arbeite ich gerne an Dingen die ein begrenztes Leben haben.
MS Wie sieht denn das bei eurem gemeinsamen Projekt aus? Wo finden sich da gemeinsame Nenner, Bezüge, ein Ausgangspunkt?
ER Ich glaube, angefangen hat es damit, dass wir beide als DJs für einen Gig gebucht wurden. Jemand hat dann vorgeschlagen, wir sollten doch ein gemeinsames Live-Set spielen. Zwei Freunde fragten uns im Anschluss an den Gig, ob wir gemeinsam eine Platte für ihr neues Label Brothers machen möchten. Eine bestimmte Kontinuität bei TR\\ER ist, dass seit diesem Startpunkt alles auf die Maschinen und unsere Interaktion damit fokussiert ist. Was lässt sich aus diesen Kisten, die wir besitzen, herausholen?
MS Es gab also darüber hinaus nicht so etwas wie ein abstraktes oder ästhetisches Konzept, das ihr verfolgen wolltet?
ER Nein.
TR Ich denke, wir haben beide nie gross mit Konzepten gearbeitet. Das funktioniert für mich nicht.
ER Unser Live-Projekt ist eher das Gegenteil von konzeptbasiertem Arbeiten. Zu oft schweifen für mich Live-Shows ab, zu oft sind sie noisy, experimentell und etwas anstrengend, wenn man ehrlich ist. Wir finden eher: Ok, wir sind zwei Brüder, wir haben ein paar Drum-Computer, zwei 303s und machen propere Klubmusik, zu der die Leute tanzen können.
TR Unser Setup ist Oldschool: Bereits vor 20 Jahren haben Leute Acid-Techno gemacht und live gespielt. Ich hoffe aber, wir können ein wenig überraschen, indem wir Technologie verwenden, die es damals noch nicht gab. Mit den Computern, die wir dabei haben, können wir Dinge weiterentwickeln und neue Klänge generieren. Damit ergeben sich hoffentlich auch neue Wendungen. Ich denke, dieser Ansatz fasst auch das zusammen, was wir beide in unserer Musik zu machen versuchen – denn ganz ehrlich: MPIA3 ist rückblickend schon ein recht retro-mässiges Projekt und ich kann nur hoffen, dem noch etwas hinzugefügt zu haben.
Ein Fortsetzen, ein Zurückkehren, ein Neubeginn: Kontinuitäten im Koordinatennetz der Dance Musik, immer wieder neu verhandelt, neu austariert und trotzdem am 4/4-Takt entlang in Richtung Tanzfläche orientiert. Permanente Erweiterung und Erneuerung. «Wir werden nicht aufhören, uns zu Schülern der Affekte zu machen» schreibt Lyotard 8, und an anderer Stelle: «Verstehen, intelligent sein, ist nicht unsere Hauptleidenschaft. Wir wollen lieber in Bewegung versetzt werden.» 9
MS Ihr nutzt also sowohl analoge Hardware als auch digitale Tools in euren Sets. Ist für euch die Differenz da gar nicht so entscheidend?
ER Ja, wir haben beides in unserem Setup integriert. [Mit Blick zu TR] Du tendierst wohl etwas mehr zu Hardware und ich arbeite eher digital mit Programmen – aber ich würde sagen, das geht bei uns Hand in Hand.
GS Kann man diese Kombination von analogen und digitalen Tools auch als sinnbildlich für euer Projekt verstehen? Analoger Techno, gemischt mit einem digitalen Update von Breakbeat?
ER Ich weiss nicht. Für die Tracks, die ich als Tessela produziere, benutze ich oft Samples. Da arbeite ich digital – die Ergebnisse, die ich will, kann ich nicht genau so mit einem Drum-Computer erzeugen. Wenn wir jedoch zusammen arbeiten tendieren wir dazu, auf der Basis von 4/4-Takten zu produzieren. Dafür eignen sich die Maschinen, die wir benutzen, hervorragend und oft müssen wir zum Beispiel Drum-Loops gar nicht mehr gross bearbeiten. Das Ganze ist im Moment ja auch vor allem ein Live-Projekt – bisher haben wir nur einen Track veröffentlicht 10. Es geht uns also im Moment vor allem darum Musik zu produzieren, die für Live-Shows funktioniert.
TR Wir benutzen eine Art modulares Setup mit verschiedenen Komponenten: Die unterschiedlichen Drum-Kits und Acid-Lines können wir dann je nach Bedarf kombinieren. Während sich alles entwickelt, können wir uns neue Dinge ausdenken. Wir haben einen Startpunkt und einen Endpunkt. Dazwischen können wir uns einfach gegenseitig Dinge zurufen: «Mach das, mach dies. Hör auf mit dem!»
Das Ereignishafte des Live-Moments: Sind da Diskontinuitäten und Brüche auszumachen? Der sprichwörtliche Break-Beat quasi? Mark Fell erläutert in seinem Essay «Collateral Damage» 11 Ausbrüche und Umbrüche im Rahmen geschlossener Systeme: Im Korsett der Drum-Kits ergibt sich die Möglichkeit zur Kreativität jenseits von selbstauferlegter Imitation. Die Möglichkeit des Anderen durch die Suche der Grenzen des Gleichen.
GS Ich habe zuerst eurer Boiler Room Set gehört und dachte, ihr würdet auch im Berghain zusammen auflegen. Was ich diesbezüglich interessant fand, war die Kombination der teilweise Gabber-inspirierten MPIA3- beziehungsweise Truss-Tracks und der eher an Hardcore-orientierten Tessela-Produktionen auf einem etwas langsamerem, eher an House erinnerndem Tempo. Damit eröffnen sich Möglichkeiten – auch jenseits eines derzeit stattfindenden Revivals von Breakbeat und Industrial-Techno.
ER Für mich ist das Hardcore- und Jungle-Revival schon so weit gegangen, wie es gehen sollte. Gewisse Leute produzieren Tracks, die so klingen als wären sie 1994 veröffentlicht worden. Ich versuche in letzter Zeit vermehrt in meiner Musik den Hardcore-Einfluss wieder etwas herauszunehmen. Bei meinen neuen Produktionen gibt es noch Anklänge daran, aber ich versuche meine Beats anders klingen zu lassen, um das Ganze frisch und interessant zu halten.
Innovation steht also für Weiterdenken, Umformulieren und Kombinieren genauso wie sie für Unterbrechen und für Von-Vorne-Anfangen steht. Die Auswahl zwischen den Möglichkeiten folgt einem Imperativ des Neuen.
MS Ich weiss nicht wie viel vom Rest des Festivalprogramms ihr gesehen habt. Das CTM Festival fokussiert dieses Jahr auch auf frühere Avantgarde-Bewegungen, darunter die verschiedenen Strömungen im Russland der 1920er Jahre. Es wird versucht, Leuten, die teilweise etwas in Vergessenheit geraten sind, die verdiente Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Sind für euch ältere und experimentelle Formen der elektronischen Musik wichtig? Oder haltet ihr euch da doch eher strikt an Klub- und Dance-Musik?
TR Für mich geht es schon eher um einen Fokus auf den Klub. Ich bin mir zwar der Bedeutung von gewissen Komponisten und Bewegungen bewusst – mein Referenzpunkt bleibt aber die Rave-Kultur. Ich könnte jetzt meine Einflüsse nicht viel weiter zurückverfolgen als bis zu Kraftwerk 12.
ER Meine Musik ist durch und durch Klubmusik. Wenn ich Musik mache, dann mache ich sie für den Dancefloor, ohne andere Szenarien des Hörens im Kopf. Aber jemand, der die Art meiner Produktion beeinflusst hat, ist Trevor Wishart 13. Der macht wirklich verrückten Scheiss – schon seit einiger Zeit und früher noch mit sehr limitierter Technologie: Songs mit dem Flügelschlag einer Fliege und so.
TR Solche Sachen liefern schon Inspiration. Man realisiert, dass man aus den einfachsten Samples ganze Klangwelten herstellen kann. Ich habe beim BBC Radiophonic Workshop ein altes Video von Delia Derbyshire 14 über experimentelle Tape-Loops gesehen. Das war natürlich keine Absicht, aber von heute aus betrachtet klingt das beinahe so, als hätten die damals funktionelle Klubmusik gemacht.
GS Seht ihr einen Trend hin zu mehr experimenteller Musik im Klub? Glaubt ihr, dass es diesbezüglich eine grössere Offenheit vom Publikum gibt?
ER Ja, ich meine, schaut euch nur das Programm von heute Nacht an 15. Da gibt es schon eine Offenheit für das Experimentelle, auch im Rahmen des Funktionalen, finde ich.
TR Ich denke, es ist schwierig, avantgardistische oder experimentelle Musik in ein Klubumfeld zu bringen. Ob das Erfolg haben kann, hängt sehr stark vom Spot ab: In Berlin herrscht diesbezüglich ein grösseres Interesse, auch in London könnten solche Sachen noch funktionieren. Aber schon nicht mehr in dieser Grössenordnung; und dann bereits wieder eher segmentiert. Heute Abend ist ein spezielles Publikum da: Man hat Leute, die halt auch wegen den eher experimentellen Acts herkommen – die Crowd heute ist open-minded, bereit, vieles zu akzeptieren.
MS Von aussen betrachtet scheint es, als würden in letzter Zeit vermehrt wieder Verbindungen zwischen Deutschland und England befruchtet werden – als gäbe es da einen aktiven Austausch. Ist das ein neues Phänomen – oder gab es das in euren Augen immer schon?
TR Es waren immer starke Verbindungen, vor allem natürlich was Techno angeht. Da gab es immer Korrelationen, insbesondere zwischen London und Berlin. Das ist aber schon auch noch etwas stärker geworden in den letzten Jahren – vor allem auch durch das Berghain. Als das ganze Minimal-Ding an seinem Höhepunkt angelangt war, haben die Leute hier [im Berghain] an viel härteren Sounds gefeilt. Das hat viele Leute in London dazu gebracht, zu dieser Sound-Ästhetik zurückzukehren 16.
Ein Bruch, eine Diskontinuität, kommt also auch von aussen. Ereignisse, welche von einem Aussen in vorhandene Zusammenhänge einbrechen, können diese aufbrechen und Neuerungen generieren. Und sei es auch nur als Verweis auf einen bereits vergangenen und möglicherweise vergessenen Ausgangspunkt – hier ein roher, harter 4/4-Takt.
GS Letzte Frage: Was steht bei euch in nächster Zeit an?
ER Wir haben schon immer viel Musik zusammen gemacht und es wäre sicher ein Ziel zusammen eine Platte zu veröffentlichen. Aber wir sind beide zu beschäftigt um gemeinsam viel Zeit im Studio zu verbringen. Entsprechend liegt der Fokus auf der Live-Show – also dieser mehr Kick zu geben. Und vielleicht endlich Flight-Cases zu organisieren. [Lacht]
TR Es ist schön, keinen Druck zu haben. Wir spielen in nächster Zeit sechs bis sieben Live-Shows. Und wir haben uns eigentlich gedacht, dass wir eine Platte rausbringen sollten – so kommt man ja normalerweise zu Gigs. Aber die Gigs kamen ja bisher auch so…
Acht Stunden später betreten die beiden Russel-Brüder die Berghain-Bühne. Körper-Kontinuität, Affekt-Musik: Sie liefern ein Set, welches perfekt auf der Tanzfläche funktioniert. «Repetition is fundamental to music and its greatest asset», schreibt Adam Harper 17. Eine Verortung im richtigen Kontext, Repetition als ästhetisches Ziel: Kontinuität heisst, mit Musik auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach deren Anfängen für Begeisterung zu sorgen.
- Dudenredaktion (Hrsg.) (2011): Duden. Das Fremdwörterbuch. Dudenverlag. Mannheim. S.539. ↩
- You’re not hardcore unless you live hardcore. ↩
- Was Tom hier wohl als «Techno-Drum» bezeichnet, ist der Roland Drum-Computer TR-909 und seine für den Techno typischen Sounds von Kick-Drum, High-Hats, etc. ↩
- Reynolds, Simon (1992, 1994, 1996, 1997 und 1999): Diverse Titel. The Wire Magazine. 105, 127, 136, 148, 166 und 182. Online unter http://www.thewire.co.uk/in-writing/essays/the-wire-300_simon-reynolds-on-the-hardcore-continuum_introduction ↩
- ebd (2013): «The Wire 300: Simon Reynolds on the Hardcore Continuum: Introduction». ↩
- vgl. z.Bsp. Ben UFOs Reaktion auf die Erwähnung des Konzepts im Gespräch mit DJ Harvey (2013:190). In: For the Record. Berlin: Die Gestalten Verlag. S.180-196. ↩
- vgl. Gilbert, Jeremy (2009): «The Hardcore Continuum?» in Dance Cult. 1(1). S.118. ↩
- Jean-François Lyotard (2007). Libidinöse Ökonomie. Zürich: diaphanes, S. 29 ↩
- Lyotard 2007, S. 65 ↩
- TR\\ER & AD\\TD (2012): UC/Multiple Visions. Brothers. BROS001 ↩
- Mark Fell (2013): «Collaterel Damage». The Wire Magazine. http://www.thewire.co.uk/in-writing/essays/collateral-damage-mark-fell ↩
- Das erste, selbstbetitelte Album von Kraftwerk erschien 1970. ↩
- Trevor Wishart (*1946), Komponist, lebt in York. Siehe: http://www.trevorwishart.co.uk ↩
- Delia Derbyshire (1937-2001), Komponistin, Musikerin und Produzentin. Mitglied der Band White Noise. ↩
- Am 31.Januar 2014 spielten im Berghain: Opium Hum, Oake, Dasha Rush, TR\\ER, Concrete Fence, Metasplice und Helena Hauff (siehe CTM-Teil). ↩
- Als Beispiel kann hier auf das Karenn-Projekt von Pariah und Blawan verwiesen werden. ↩
- Adam Harper (2011). Infinite Music. Imagining the next millenium of human music making. Winchester/Washington: Zero Books. ↩