19.11.2015 von Marc Schwegler

Fragmentarische Kartographie: Seismographic Sounds

Im Buch Seismographic Sounds – Visions of a New World versammelt Norient eine Vielzahl von Bloggern, Journalistinnen, Musikern und Akademikerinnen, um sich emergierenden Musikpraxen aus allen Ecken und Enden einer postkolonialen Welt zu nähern. Dem Buch indes hat sich Marc Schwegler genährt.

Als die Aufklärer Denis Diderot und Jean Babtiste le Rond d’Alembert 1751 damit begannen, die berühmte Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers herauszugeben, die auf 17 Textbände und 71 818 Artikel anwachsen sollte, ging es noch darum «[…] ein allgemeines Bild der Anstrengungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu entwerfen». Der revolutionäre Gestus eines absoluten Welt-Bildes negierte noch die später von Heidegger postulierte «Spezialistik» einer Wissenschaft, die notwendigerweise immer Einzelwissenschaft bleiben muss, weil sie «auf den Entwurf eines umgrenzten Gegenstandsbezirkes» gründet. Das Fragmentarische ging den Enzyklopädisten notwendigerweise noch ab, wollte man doch «die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse […] sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen [darlegen], mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen […] überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei.»

Nun leben wir aber heute, wie Foucault bereits vor einigen Jahrzehnten bemerkte, nicht länger in einer Epoche, die wie auch noch das 19. Jahrhundert eine Obsession mit der Geschichte teilt. Wir befänden uns im Zeitalter des Raumes, konstatierte Foucault, «in der Epoche des Simultanen, […] der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, […] in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein grosses sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt». Der Versuch, die entsprechende Musiklandschaft zu kartografieren, den der Band Seismographic Sounds des «Network for Local and Globals Sounds and Media Culture» (Eigendarstellung) Norient unternimmt, muss also zwangsläufig anders verfahren als der eurozentrische Blick am Vorabend der französischen Revolution.

Unter der Herausgeberschaft von Theresa Beyer, Thomas Burkhalter und Hannes Liechti versammeln sich eine Vielzahl von Bloggern, Journalisten, Musikerinnen und Akademikerinnen, um sich emergierenden Musikpraxen aus allen Ecken und Enden einer postkolonialen Welt zu nähern. Die kaleidoskopartige Anordnung aus Interviews und Kurzbeiträgen, Bildern, Zitaten nähert sich nur schon formal der Vielfältigkeit der Klänge, die einer über das Netz verknüpften Welt entspringen, wo – wie Adam Harper in einem seiner Beiträge schreibt – dem heutigen Hörer und Produzenten «opportunities to explore the pluralism and juxtaposition of musical styles» geboten werden. Phänomene wie die folkloristischen «Indianer»-Gruppen, die deutsche Bürgersteige und Plätze bevölkern, wo sich historische Imaginationen und Klischees des «Indianischen» mit Verstärkertechnologien zu einem stummen Rassismus verkoppeln, treffen so im Buch auf die Samplesuche der schweizerisch-ghanaischen Sängerin Joy Frempong in Süd- und West-Afrika. Die von Werbestrategien afrikanischer Mobilfunkkonzerne befeuerten Karrieren nigerianischer Musiker, die transgressiven Tabubrüche des Schweizer Noise-Musikers Joke Lanz alias Sudden Infant, der Kitsch-Pop des Londoner Labels PC Music, die Stimmen von Rappern und Sängern aus dem postrevolutionären Ägypten… Eine unglaubliche Vielfalt von Eindrücken, Ästhetiken, Klängen und Verfahren schwappt einem aus dem knapp 500 Seiten starken Buch entgegen, wobei auch der Versuch der zähmenden Aspektualisierung unter einzelne Gesichtspunkte wie «Money», «Loneliness» oder «War» diesen reissenden Strom nicht standzuhalten vermag.

Die Aufzeichnungen weltweiter Mikrobeben, die dieses seismographische Werk vornimmt, lassen zwangsläufig zwar teilweise etwas Tiefenschärfe vermissen. In seiner Mannigfaltigkeit ist das Werk aber dennoch ein äusserst ansprechendes Zeitdokument – gerade auch aufgrund der Überforderung, die einem beim Blättern und Lesen überkommt. Eine Überforderung, die Thomas Burkhalter in seiner Einführung für das Erarbeiten des Buchs sowie für musikethnografische Forschung im Zeitalter globalisierter Datenmassen generell konstatiert. Der von Norient vorgeschlagene multilokale und multilinguale Approach ist diesbezüglich auf jeden Fall eine vielversprechende Perspektive und entspricht der Vision einer neuen Welt, die das Buch im Untertitel trägt. Dass diese nicht mehr (nur) von Europa aus kartografiert werden kann und Vollständigkeit dabei kein Ziel mehr sein muss, legt dieses Buch in eindrücklicher Weise dar.

Seismographic Sounds – Visions of a New World
Herausgeber: Theresa Beyer, Thomas Burkhalter, Hannes Liechti
Verlag: Norient Books, Bern
ISBN: 978-3-9524496-0-8 S
Layout: gut & schön, Annegreth Schärli

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Noch bis Ende November läuft im ZKM die Ausstellung zum Buch. Im Februar wird sie im Rahmen des CTM Festivals in Berlin zu sehen sein. Mehr Infos online.