Manchmal liegt nur wenig Raum zwischen verschiedenen Welten. An einem sonnig-frischen Oktoberwochenende teilt sich die Mannschaft des 1. FC Heidenheim das Hotel mit internationalen Elektronik-Acts wie Lotic. Während sich der FCH vom heimischen Glubb – der Kosename für den 1. FC Nürnberg – vermöbeln lässt, unternehme ich einen ruhigen Spaziergang rund um den Valznerweiher, um die erste Nacht des It Isn’t Happening-Festivals (IIH) Revue passieren zu lassen. Durch den Wind wehen Fangesänge und lösen allmählich die otoakustischen Frequenzen ab, die Thomas Ankersmit tags zuvor in meinen Gehörgängen aktiviert hat. Der Holländer arbeitet mit psychoakustischen Phänomenen. Mit präzise gesteuerten Analog-Synthesizer-Klängen etabliert er im Ohr einen Zwischenort für Frequenzen, die erst im Gehirn entstehen. Andere Teile seines faszinierend präzisen Sets im Nürnberger Z-Bau regen via Infraschall den Rest des Körpers zum Vibrieren an.
Ich wiederum befinde mich körperlich wie mental zwischen Stadion, Reichsparteitagsgelände und dem Z-Bau. Passenderweise heisst der Raum, den die IIH-Kulturinitiative frisch angemietet hat, Space Between. IIH-Mitveranstalter Antares Igel will ihn mir vor der zweiten Festival-Nacht zeigen – aber nicht, bevor wir mit dem Auto all die anderen Orte in Nürnberg abgefahren haben, an denen IIH seit 2014 insgesamt vier Mal stattfand. Auf dem Weg vergleichen wir DIY-Kultur-Erfahrungen in verschiedenen Städten, entgehen nur knapp einem kleinen Unfall, bewundern brutalistische Bauten und sinnieren über Soziokultur und Transkulturalität (für Antares ein zeitgemässes Verständnis der migrantisch geprägten Gesellschaft, das sich auch im Booking und Publikum von IIH niederschlagen soll).
2014 bündelten junge Nürnberger Veranstalter*innen, Musiker*innen und DJs ihre Kräfte, um experimentelle elektronische Live-Musik, Kunst und Klubkultur in einem Festival zu kondensieren. Dessen Anfänge wurzeln im Zentralcafé, einem Teil des in der Altstadt gelegenen Künstlerhaus. Es folgte eine Odyssee durch Nürnbergs Industriehallen, die einst von Firmen von AEG bis zu Quelle benutzt wurden. Keiner der Veranstaltungsorte erlebte mehr als eine Festival-Ausgabe. Immer war viel Eigeninitiative vonnöten. Wenn es sein musste, wurde sogar ein Fluchtweg eigenhändig aus einer Hallenwand geschlagen. Die Stadt macht es auch in Nürnberg der unabhängigen Kulturszene nicht leicht. Die Probleme hören sich an wie überall: Investor*innen kaufen Leerstand auf, die Verwaltung beugt sich, kostspieliger Wohnraum entsteht, die Kunst muss weichen. Doch hat sich laut Antares in den letzten Jahren auch einiges verbessert. Es gibt mehr Dialog zwischen Kulturszene und Stadt und mit der Politbande ist seit 2020 sogar eine Partei im Stadtrat vertreten, die sich für soziokulturelle Belange einsetzt. It Isn’t Happening hat seine jetzige Dimension nicht zuletzt öffentlicher Fördergelder zu verdanken. Für Antares ist das kein Widerspruch zum DIY-Geist, den er nach wie vor hochhält: «Wir wollen zeigen, dass so eine Veranstaltung auch ohne zig Sponsoren funktionieren kann.»
Mit dem Space Between hat die Kulturinitiative nun gefunden, wonach es jahrelang gesucht hat. Es ist, was freie Kultur immer und überall braucht: einen Raum. Er befindet sich im Beton-Arrangement der S-Bahn-Station Steinbühl. Massgeblichen Anteil an der auf zehn Jahre angelegten Nutzung hat Nina Schreyer von der IIH-Bande, die als Architektin in der Kultur arbeitet. Wir sehen uns die Ausstellung von Alessia Pennavaria und Shila Rastizadeh an, die die noch unfertige Innenausstattung des Raums in ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der Thematik Zwillinge integriert. Skulpturen stehen auf dem Gitterboden, Beamer projizieren auf den Sichtbeton. Noch ist der Space Between nicht betretbar, sondern wird durch die grosse Fensterfront beäugt. QR-Codes auf der Scheibe bieten Zugang zu einem virtuellen Teil der Ausstellung. So soll es auch bei den kommenden zwei Kunstprojekten bis Weihnachten funktionieren. Das Soft Opening, welches von Nora Wolf und Diana Galli kuratiert wird, will ohnehin einen künstlerischen Schwerpunkt auf Neue Medien setzen. Für die Zukunft ist eine hybride Nutzung als Kunst-, Konzert- und Klubraum angedacht. Antares philosophiert von seinem Ideal eines Resonanzraums: «Wir möchten Soundräume als gemeinschaftliche Räume gestalten, in denen man zusammenkommen kann, um bewusst Sound zu hören. Klang steht bei It Isn’t Happening immer im Verbund mit der Architektur.» Resonanzen sollen auch zwischen der Kunst und gesellschaftlichen Themen entstehen. Dabei ist es von Vorteil, dass hinter IIH und Space Between Leute aus unterschiedlichen Disziplinen stecken, von Musik und Kunst über Design bis zu Architektur und Sozialarbeit. Die Herausforderungen einer komplexen Gegenwart lassen sich eben nicht aus einer Mono-Perspektive angehen. Auch in dieser Hinsicht ist der Space Between ein Zwischenraum, so wie auch die Musik auf dem It Isn’t Happening.
Das Festival setzt nicht nur auf international arrivierte Künstler*innen oder die lokale Szene, sondern positioniert sich dazwischen. So treffen Acts, die weltweit auftreten, auf Entdeckungen aus der lebendigen Nürnberger Musikszene rund um die Klasse «Dynamische Akustische Forschung» an der Kunstakademie und Labels wie Verydeeprecords, Otomatik Muziek und Computer Abuser. Hinter letzterem stecken Finn Klein und Maurice Schirm, die den ersten Abend mit einem nebligen Ping-Pong-Set auf einer Tischtennis-Platte einläuteten. Da Puce Mary kurzfristig absagen musste, übernahmen die Nürnberger Jakob Salz und Philipp Dittmar den Mainslot. Und sie avancierten mit einer massiven Klangwand aus Schlagzeug und Elektronik zum energetischen Höhepunkt des Abends.
Auch der Spagat zwischen forderndem Live-Programm und Klub geht wie eine leichte Übung über die Bühne. Das beweist die zweite Festivalnacht: Die Glubb-Tags am Z-Bau lassen nochmal kurz die Fangesänge vom Nachmittag im Kopf erklingen, um kurz darauf von Huong Federkeils dichten Sound-Atmosphären ertränkt zu werden. Wavige Trackstrukturen auf konstanten 96 BPM gehen beim Duo Function Level Marker in schillernden Visuals zu einer Gesamterfahrung auf. Aus einem runden Laserportal beamt sich schliesslich Lotic auf die Bühne. Die scharfen Grime-Kanten, wie man sie von ihren früheren Releases auf Janus kennt, schneiden weiterhin durch die Instrumentals, doch darüber hangelt sich nun die klare, uneffektierte Gesangsstimme von J’Kerian Morgan. Weiter geht es in den intimeren Räumen der Galerie, gleich nebenan im Z-Bau, und an dieser Stelle muss es persönlich werden: Dies ist mein erster Rave seit Ihr-wisst-schon. Und es ist wie Fahrradfahren! Hyperdub-Künstler Nazar [siehe zweikommasieben #24] ist der denkbar beste Begleiter für die Resozialisierung im Soziotop Klub. Nicht nur für mich, wie ein Blick durch den Raum und das eine oder andere Gespräch zeigen. Sein «Rough Kuduro» trägt massgeblich zu diesem reinigenden Gefühl am nächsten Morgen bei, das ich fast vergessen hätte und nie wieder missen möchte. Das Teilen von Zeit, Raum und lauter Musik bei körperlicher Verausgabung, kombiniert mit wenig Schlaf wirkt wie ein seelischer Jungbrunnen. Die Berlinerin Kikelomo mit ihrem Mix aus Bassmusik, Nirvana-Edits und Drum’n’Bass und die Nürnberger Spectrum-DJs tun ihr Übriges dazu.
Während des gesamten Festivals herrscht der Eindruck: Das hätte auch in irgendeiner anderen Stadt passieren können. Und das ist ausdrücklich positiv gemeint. In einer globalisierten Musikszene macht sich Nürnberg einen Namen als ein spannender Ort zwischen vielen. Auch jenseits der Metropolen finden sich Enthusiast*innen, die mit Energie und Eigeninitiative ihre musikalischen und soziokulturellen Visionen umsetzen. Das ist mit anderen Schwierigkeiten als in international renommierten Musik-Städten verbunden. Doch It Isn’t Happening unterstreicht eine Tendenz der letzten Jahre: Zeitgenössiche musikalische Vielfalt verstreut sich zunehmend auch geografisch. Oft passiert es eben dazwischen.