04.09.2016 von Annie Gårlid

Dale Cornish – Systemfehler

Seit Langem schon ist London Heimat wegweisender Tanzmusik und abseitiger Szenen – etwas, das sich in den vielen innovativen Klubs, Partys und Radiostationen zeigt. Hier ist Dale Cornish seit den frühen Nullerjahren als DJ und Kreischer aktiv. Zudem hat er über die Jahre eigene Musik produziert, allein und als eine Hälfte des Projekts No Bra. Seit 2011 hat er stetig Solo-Material auf Beartown Records, Entr’acte und The Tapeworm veröffentlicht – auf letzterem seine aktuelle LP Ulex, die im November erschien. Daneben hat er ab 2013 Material, das aus Kollaborationen mit Phil Julian und Adam Asnan hervorging, auf The Tapeworm und Wasted Capital herausgebracht.

Cornish hat eine Vielzahl an Projekten in der Pipeline: unter anderem arbeitet er an einer Zusammenarbeit mit Vessel [siehe zweikommasieben #10] und an der einen Seite einer von NMOs Ruben Patiño kuratierten Split-Kassette (die andere Seite trägt EVOL bei). Seine Musik, gelegentlich verzerrt von bohrenden Vocals, klingt manchmal schwebend, manchmal erscheint sie als eine allmächtige, rhythmische Einheit. Dabei ist sie klar umrissen und – bombastisch.

Cornish hat ausführlich mit Annie Gårlid vom CTM Festival und zweikommasieben über seine Arbeit gesprochen.

Annie Gårlid Was ist dein musikalischer oder künstlerischer Hintergrund, was für eine Ausbildung hast du absolviert?

Dale Cornish Nun ja, eigentlich keine. Mein Grossvater war ein professioneller Musiker – er spielte klassische Musik und ein wenig Jazz.

DC Er spielte alles. Als er 16 war, lernte er innerhalb von zwei Wochen, Geige zu spielen. Für das Saxofon brauchte er ungefähr fünf Tage, was ziemlich erstaunlich ist. Von da an war er im Orchester und spielte auch ein paar Filmsoundtracks ein. Er trat an Orten wie dem Ritz oder dem Dorchester in London auf. Und all diese Stücke spielte er aus dem Effeff. Ich selber war immer von Musik umgeben. Eine meiner ersten Erinnerungen ist eine Aufnahme von Tschaikowskis Ouvertüre von 1812, die mein Vater hatte – erschienen bei der Deutschen Grammophon, gespielt vom Göteborger Symphonieorchester, mit echten Kanonenschlägen. Ich erinnere mich, dass mein Vater das Stück immer im Auto abspielte und zu meinem Bruder und mir sagte «Passt auf, die Kanonen kommen gleich». Dann hörte er auch Dinge wie die Pet Shop Boys und Whitney Houston und The Stranglers. Deshalb war ich immer schon an Musik an sich interessiert. Ich bin auch auf eine anglikanische Schule gegangen, dort sangen wir jeden Tag Kirchenlieder.

AG Du warst in einem Knabenchor?

DC Nein, die ganze Schule sang gemeinsam, während die Direktorin am Klavier spielte. Und weil die Kirche nur zwei Minuten von der Schule entfernt war, gingen wir manchmal dorthin und sangen. Ich bin irgendwie musikalisch, aber ich habe keine formale Ausbildung. Irgendjemand hat mir mal gezeigt, was ein Akkord ist [lacht]. Aber ohne richtige Ausbildung ist man sich über diese Regeln und so nicht im Klaren, weshalb man einfach irgendwelche Dinge erschaffen kann, ohne darüber nachzudenken, dass die Tonarten nicht zueinander passen oder so.

AG Ja, in gewisser Hinsicht kannst du Klang dadurch räumlicher begreifen und nicht so sehr als etwas, das innerhalb eines strengen Rahmens entwickelt werden muss. Du hast die Freiheit, den Klang eher wie bei einem visuellen Projekt zu manipulieren…

DC Definitiv.

DC Ungefähr im Jahr 2000 fing ich an aufzulegen. Das ist der eigentliche Hintergrund meiner Musik. Es gab da einen Klub namens Gummi, der inzwischen zugemacht hat. Das war ein Schwulenklub. Ich spielte dort Sets über vier oder fünf Stunden, vom Anfang der Nacht bis der letzte Gast nach Hause ging. Das war echt gut – ich spielte richtig langsame Sachen und dann zum Ende hin mehr Techno. Ich bin mir dem Narrativ meiner Musik sehr bewusst, falls das Sinn macht, genauso wie ihrer räumlichen Anordnung. Zum Beispiel könnte man in meinen Augen einen einzelnen, brillanten Track gemacht haben. Wenn man aber eine EP oder ein Album macht, dann muss man sich darüber im Klaren sein, wie jener Track zum nächsten Track passt. Ich glaube, aufzulegen hat diesbezüglich sehr geholfen. Ich hab auch immer bei sehr beliebigen Dingen gespielt, wie Buchvorstellungen und so. Die beste Veranstaltung diesbezüglich war vor ein paar Jahren. Es gibt da diese Toilette namens The White Cubicle im Londoner Pub George and Dragon, in der einmal im Monat ein Künstler irgendwas ausstellt. Mein alter Freund Sico Carlier hatte da die Eröffnung seines Stücks Marquee 2 – sie handelte von den Nagelbomben in Soho und Bethnal Green. Und er fragte mich «Kannst du kommen und so richtig schräges, industrial, experimentelles, rhythmisches Zeug spielen?» Das tat ich dann auch und als ich fertig war, kam der Typ, der vor und nach mir dran war – der Resident DJ, der Kylie und so gespielt hatte –, zu mir und sagte: «Ich glaube, morgen wirst du aufwachen und merken, was du heute Abend getan hast».

AG Was soll das bedeuten? War das ein Kompliment?

DC Nein. Er schaute mich an, als ob… Egal. Ich hatte eine Aufgabe bekommen und diese erfüllt. So sehe ich das.

AG Alles klar, du fingst also an, deine eigenen Sachen zu machen, nachdem du für eine Weile aufgelegt hattest.

DC Genau, ich fing 1999 oder 2000 mit dem Auflegen an. Kurzzeitig war ich auch in einer Croydoner Hardcore-Band namens Squashfox, die sich auf Mr. Bungle bezog – die Band mit Mike Patton von Faith No More. Im Grunde spielte ich da lediglich ein oder zwei Auftritte, bei denen ich eigentlich auch nur kreischte und schlecht angezogen war. Ausserdem machte ich diese «Gabber Birthdays», bei denen ich einen Track von Venetian Snares oder so nahm und diesen im Klub für jemanden spielte, der Geburtstag hatte. Der Track musste unter einer Minute lang sein, und ich schrie währenddessen «Zum Geburtstag viel Glück»… [Lacht]

AG Wie, du hast das gekreischt?

DC Genau, und ausserdem versuchte ich, der jeweiligen Person so nahe wie möglich zu kommen und auf ihr Gesicht zu zeigen.

AG Das klingt wahnsinnig.

DC Also der Track lief auf der Anlage des Klubs, und es gab ein Mikrofon, und an sich schrie ich einfach durchs Mikrofon ins Gesicht… Ich hab das nur ein paar Mal gemacht. Sogar ich fand das ein wenig verstörend.

AG [Lacht] Die konfrontativsten Glückwunsche aller Zeiten.

DC Genau. Davon abgesehen war ich in vielen Electroclash-Klubs in London anzutreffen, etwa dem Nag Nag Nag und The Cock. Nag Nag Nag war wirklich ziemlich legendär – die Leute reden noch immer darüber. Anscheinend – so wurde es mir kürzlich erzählt – war ich abgesehen von den Stamm-DJs und DJ Hell derjenige, der dort am häufigsten aufgelegt hat. Das ist eine Electroclash-Tatsache.

AG Echt? Das ist grossartig.

DC Ja. Es gab da auch noch diesen Klub namens Kash Point. Wie auch immer, ungefähr 2004 gab mir meine Freundin Susanne [Oberbeck] eine CD. Sie war in dieser Band namens No Bra.

AG Oh, genau.

DC Eines Tages konnte der Typ in der Band keine Shows mehr spielen, weshalb sie mir eine SMS schickte und mich fragte, «kannst du singen?», und ich antwortete, «natürlich kann ich singen!» Wir hatten einen Auftritt im Rahmen der Reihe Salon des Artistes im Nag Nag Nag. Da war ich zwei Jahre dabei. Ich schrieb an der Musik mit und auch am Text für den Song «Munchausen»; das war so ein Indie-Disco-Ding. Pete Tong spielte es auf Radio 1 – das ist dieser berühmte britische DJ. Ich wollte eigentlich meine eigene Musik machen, aber ich dachte mir, die Zeit dafür würde dann sonst irgendwann kommen. Ich verliess No Bra wegen Rock ’n’ Roll-Unstimmigkeiten, und danach startete ich die Band Baraclough, die machte ekstatischen Noise, wie ich das nannte.

AG Klingt grossartig.

DC Noise war immer ein bisschen negativ.

AG Und machohaft?

DC Genau. Wir waren zu dritt. Man nannte uns die schwulen Whitehouse.

DC Da durfte ich wieder Leute anschreien und mit dem Finger auf sie zeigen und das Publikum spalten, indem ich beim Singen irgendwie rückwärts ging – solche Sachen halt. Das versandete dann aber irgendwie, als mein Bandkollege Paul [de Casparis] nach Spanien zog. Gleichzeitig hatte ich auch eigene Tracks geschrieben, und ungefähr 2011 fing ich an, sie Allon [Kaye] zu schicken, der Entr’acte betreibt. Ich schickte ihm ein Stück und dachte nicht, dass er antworten würde. Aber er antwortete und meinte «Oh, das mag ich sehr; hast du mehr davon?» So entstand meine erste CD Glacial. Und nun sind wir hier.

DC Ich hatte vorher noch niemandem irgendwelche Demos geschickt. Ich mochte Entr’acte sehr. Dieser Typ Phil Julian – heute sind wir befreundet und haben letztes Jahr ein Album zusammen rausgebracht [Two Warhol’s Worth auf The Tapeworm] – er machte Musik als Cheapmachines, und seine CD Secede erschien auf Entr’acte. Ich hatte also diesen Track und er war fertig. Zuerst wusste ich nicht, was ich damit tun soll. Ich nahm wirklich die CD von Phil Julian in die Hand und dachte mir «Schick den Track an Entr’acte». So war das.

DC Hmm… Ich benutzte ein MacBook um mein Zeug zu spielen. Ich denke, letztlich ist das ein wenig wie eine Gitarre. Man kann mit einem Laptop die Bühne betreten und das Publikum wundert sich nicht. Als Leute wie Jim O’Rourke so was in den Neunzigern benutzten, dachte man sich noch «Was soll das?» Aber ich finde, in den letzten zehn Jahren sind die Leute gleichgültiger geworden, was das angeht. Ich glaube, heutzutage wissen sie, dass man nicht seine E-Mails checkt.

AG [Lacht]

DC Die meisten Menschen haben einen Computer oder einen Laptop, das ist also in gewisser Weise demokratisch.

DC Ich mochte meine Zeit in der Oberstufe sehr, denn da gab es diese massive metallene Treppe mit einem Geländer. Ich ging dort hin und schlug dagegen, wenn niemand in der Nähe war. Ich ging auch im Wald spazieren und sang dort vor mich hin oder machte komische Sachen mit meiner Stimme. Was Kunst angeht, ich hab das GCSE und im Anschluss das A-Level (Abitur, Matura) in Kunst gemacht, aber da wurde mir immer gesagt, was ich machen soll. Ich hatte eine fantastische Lehrerin, Becky Shepley. Sie sagte mir «Deine Arbeit ist wirklich gut und konzeptuell ist sie sehr überzeugend, aber was du tust, eignet sich nicht als Abschlussarbeit». Während dieser Zeit hatte ich auch diesen Kunstlehrer namens John. Er arbeitete mit Jonathan Moore von Coldcut, die ja Ninja Tune betreiben. John erzählte mir auf jeden Fall, dass sie Musik allein mit Laptops machen würden, was ich grossartig fand. Er erzählte uns nicht viel darüber, aber es klang, als ob man das ohne musikalischen Hintergrund machen könnte… Mag sein, dass das ein wenig nach einem Klischee klingt, aber was ich mache, hat diese plastische Seite. Auf meinem Album Ulex gibt es einen Track, für den ich ungefähr eine Viertelstunde gebraucht habe. Für einen anderen brauchte ich zwei Jahre. Niemand weiss, welcher welcher ist. Ich kann Tage damit verbringen, mir zu überlegen, wie ich eine Kickdrum positioniere. Wenn etwas fertig ist, weiss man es dann einfach. Das ist ein interessanter Punkt – es geht gewissermassen nicht um die Musikalität, sondern um die Form. Nicht nur um den Klang, sondern um die Struktur und das Narrativ.

AG Genau, und ich denke, das Gefühl dafür zu haben, wann etwas fertig ist, das ist nicht etwas, das als selbstverständlich hingenommen werden kann… Was sind das für Texte, die du in deiner Musik verwendest? Hast du die geschrieben?

DC Ja. Auf Glacial, Xeric und Ulex gibt es jeweils einen Track mit Text. Die Worte in dem ersten auf Glacial sind nicht von mir. Das ist ein Zusammenschnitt von Vocals, die ich vom Radio aufgenommen habe. Die Vocals bei «Xeric Pattern 1» sind nur ein paar Worte, die von einem Text stammen, der von mir ist. Die Nummer auf Ulex – die mit der richtig verzerrten Stimme –, das ist eine Aufnahme von ein paar Worten, die nirgendwo so richtig passten, aber in dem Kontext zu funktionieren schienen. Ich schickte sie Phil Julian und er meinte, «das ist ein bisschen wie die IRA bei World in Action, um 1981.» [In den Achtzigern war es über Jahre hin verboten, die Stimmen der Mitglieder der IRA und der britischen Loyalisten im Radio zu senden, weshalb ihre Worte oft von anderen neu aufgenommen wurden oder Filter zur Verzerrung eingesetzt wurden]
Wenn man Leute wie Brigitte Fontaine hört, oder Jacques Brel oder Hildegard Knef oder Jun Togawa, dann versteht man die Sprache vielleicht nicht, die sie sprechen, aber… Ich mag auch die Rumänin Maria Tānase. Ich habe keine Ahnung, worüber sie singt, aber man nimmt trotzdem etwas mit.

AG Das erinnert mich an «We See 3 Deer» von Leslie Winer. Zum ersten Mal hörte ich das Stück auf deinem Mix für Blowing Up The Workshop. Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie unglaublich gefühlsgeladen Gesprochenes sein kann, sogar dann, wenn man die Worte nicht verstehen kann.

brachte sie dann diese unveröffentlichten Tracks über ihre Webseite heraus und mein Freund Philip, der The Tapeworm betreibt, nahm Kontakt zu ihr auf und sagte «Ich würde wirklich gerne eine Kassette mit einigen dieser Tracks machen». Und damit war die Idee geboren, dass Leslie diese Compilation machen würde, &c. Ich half Philip, das Tape zu strukturieren – ich schlug ein paar der Tracks vor. «We See 3 Deer» musste auf jeden Fall mit drauf. Das klingt so jenseitig. Ohne Zweifel einer meiner Favoriten von ihr.

AG Sie landet einen Volltreffer.

DC Sie hatte so ein verrücktes Leben. Die Leute wissen von ihr vielleicht, dass sie eines der ersten Supermodels war, aber sie war auch sehr gut mit William Burroughs befreundet – sie war seine Aufnahmeassistentin, half ihm bei anderen Dingen. Sie hat ein echtes Leben gehabt. Wenn ich etwas von ihr lese, höre ich ihre Stimme.

AG Gibt es deiner Ansicht nach bestimmte musikalische Eigenschaften, die gut mit Vocals zusammengehen? Oder ist das eher kontextabhängig?

DC Ich glaube, das hängt vom Track ab. Letztlich geht es um diese Sache mit der Inspiration. Letzte Woche verspätete ich mich für einen Familienbesuch, weil ich angefangen hatte, diesen Track zu machen. Ich erinnere mich nicht mehr, was die Inspiration dafür war, aber es ist jeweils impulsiv; man kann das nicht planen. Wie auch immer, man kann immer rohe Vocals über etwas legen und wenn es nicht funktioniert, dann löscht man es eben wieder. Mit einem Computer kann man unendlich viele Versionen von Dingen machen. Wie Zomby – angeblich macht der fünfzig Versionen von einem Track.

AG Also sind es nicht unbedingt die reduzierteren Tracks, bei denen du denkst, sie bräuchten Vocals. So scheint es zumindest – als hättest du keine Angst vor Leere. Das ist grossartig.

DC Genau. Die Leute finden das manchmal zu anspruchsvoll. Aber scheiss auf die [lacht]. Wenn es einen überfordert, dann gibt es immer andere Optionen.

AG Absolut. Man kann einen Gang zurückschalten. DC Céline Dion ist immer da…

AG Oder Nicki Minaj.

AG Eben – «was war die Einstiegsdroge und wie konnte das passieren?» Ich habe einer Freundin den ersten Track von Ulex vorgespielt und sie meinte «Oh wow, das ist wirklich ein sehr langsamer Aufbau».

AG Ich meinte so «Der Bass wird nicht droppen. Das wird nicht passieren». Deine Musik besteht aus diesen strengen rhythmischen Einheiten, aber man wird nicht mit Euphorie erlöst. Was bedeutet Wiederholung für dich, in rhetorischer,
kognitiver oder emotionaler Hinsicht?

DC Wenn man im Radio einen Song hört oder einen Techno-Track, besteht der aus Wiederholungen bestimmter Strukturen oder Sounds und sehr oft ist es nur der Text, der eine Entwicklung auf-
weist.

AG Genau, das ist einer der guten Aspekte von Wiederholung sie ermöglicht, dass kleine Änderungen offensichtlich werden. Das bedeutet Kontrolle.

DC Wiederholung ist menschlich. Die meisten Menschen erleben von Montag bis Freitag den gleichen Tag. Wiederholung wird oft als diese kraftwerkianische, roboterartige Sache betrachtet, aber in Wirklichkeit ist sie sehr menschlich. Du weisst schon, wir müssen halt dreimal am Tag essen. Und in gewisser Weise ist das, was ich mache, ein Vermurksen – sogar wenn es so scheint, als würden sich die Dinge exakt wiederholen, ändere ich sie ein klein wenig, nur um ein bisschen unbehaglich zu sein. Ich verschiebe die Dinge ganz geringfügig.

AG Diese Verschiebungen – musst du dafür viel programmieren?

DC Ich weiss nicht, was programmieren ist.

AG Das beruhigt mich. Programmieren macht mir Angst.

DC Ach weisst du, Max MSP ist faszinierend, aber ich glaube, wenn ich das benutzen würde, dann würde da kein so verrücktes Zeug wie beispielsweise bei Autechre herauskommen.

DC Programmieren? Nein, danke! Ich habe sehr viel Musik herausgebracht, ohne programmieren zu können. Jemand wie Phil Julian, oder eben Autechre, oder EVOL – die machen diese Sachen besser. Sag niemals nie – vielleicht verwandle ich mich in zehn Jahren in den grössten Geek und arbeite an Cycling ’74. Ich spreche nie so richtig darüber, wie ich meine Musik mache, was den technischen Teil angeht. Apropos des Trend hin zur Modularsynthese [siehe auch Interview mit Charles Cohen und Rabih Beaini] Leute wie Phil Julian oder John Macedo benutzen Modular Synths schon seit Jahren – sie haben es nur nicht erwähnt. Ich finde es auch richtig schlimm, wenn Leute sagen: «Ich habe das und das an diesem richtig interessanten Ort produziert, zum Beispiel einem Atomkraftwerk nahe der schwedischen Küste» und dann hört man sich das an und es klingt einfach total öde – das einzige Interessante daran ist der Ort. Ich arbeite in gewisser Weise genau anders herum – ich sage lieber nichts zur Entstehung, denn die Beschreibung würde einen wahrscheinlich zu Tode langweilen.

DC Die andere Sache in dieser Hinsicht sind Field Recordings. Das ist so etwas – ein bisschen wie Programmieren. Die Leute haben heutzutage digitale Aufnahmegeräte oder sie haben Smartphones und deshalb können sie überall Sachen aufnehmen. Das ist ein bisschen wie, wenn jemand sagt «Nun, dies hier wurde im Dschungel in Paraguay aufgenommen», ich dabei finde, dass das wie mein Garten klingt – oder nicht mal wie mein Garten, sondern wie der Park nebenan.

AG «Es klingt wie die Fliege, die in meiner Küche herumschwirrt». Ja, die Konzentration auf die Mittel der Herstellung kann Realitätsflucht bedeuten. Geniesst du die Einsamkeit, wenn du Musik produzierst? Geniesst du es zu kollaborieren, fühlst du dich dabei wohl?

DC Ja, auf jeden Fall. Ich liebe es, mit anderen Menschen zu arbeiten, sogar wenn wir nicht am gleichen Ort sind. Ich habe einige Vocals für eine Kollaboration mit Phil Julian gemacht. Ich machte auch Vocals für These Feathers Have Plumes, das ist meine Freundin Andie [Brown], die Musik mit Gläsern macht.

AG Das klingt wunderschön.

DC Ausserdem hab ich kürzlich ein Album mit Adam Asnan rausgebracht, Mounting. Wir können uns vorstellen, noch ein weiteres zu machen. Und ich habe angefangen, mit Vessel [siehe zweikommasieben #10] zu sprechen, der auf Tri Angle Musik veröffentlicht. Wir sind seit Jahren online in Kontakt. Wir wollen vielleicht einen Track zusammen produzieren. Ich denke, als Künstler braucht man Zeit für sich alleine. Aber zugleich mag ich es, mit Leuten zu kollaborieren. Davon abgesehen finde ich es schön, mit Entr’acte und The Tapeworm zu arbeiten. Ich weiss, dass ich Dinge mit ihnen besprechen kann – zum Beispiel, wie die CD oder die Platte aussehen soll. Das Internet hat es möglich gemacht, Sachen rauszubringen, die man gerade erst aufgenommen hat. Aber ich glaube, mit einem Label zu arbeiten hat seine Vorteile, denn es findet eine inhaltliche Diskussion über die Arbeit statt.

AG Das macht Sinn. Du nennst deine Tracks «Muster» [«patterns»]. Kennst du Morton Feldman? Er hat darüber gesprochen, Muster zu verwenden, denn sie sind vollständig, sie müssen nicht weiterentwickelt, sondern nur erweitert werden. Kannst du das nachempfinden?

DC Das ist lustig – letzte Woche hörte ich mir «Palais de Marie» an. Ich kenne das Stück schon seit Jahren und finde es noch immer unergründlich. Es ist fast improvisiert, aber es ist ganz klar sehr musikalisch. In gewisser Hinsicht ist es ähnlich wie mit der Wiederholung – man kann es ein wenig neu arrangieren…

AG Genau, die Klänge sind wie Bausteine. Was hat dich dazu veranlasst, nummerierte «Muster» als Namen für deine Tracks zu benutzen?

DC In gewisser Weise bekräftigt es den Titel. Ich finde es langweilig, etwas «untitled» zu nennen. Wenn man es «Pattern 1» oder «Pattern 2» nennt, dann tut man dies nicht, ist aber dennoch von jeder Art der Assoziation befreit – es geht nur noch um den Klang oder die Musik. Es geht um Wiederholung und Bekräftigung. Und ich nenne meine Tracks «Muster», weil ich finde, sie haben diese visuelle Seite. Wenn man sich allein die Wellenform anschaut, kann man erkennen, dass die Klänge sich wiederholen oder sich ähnlich sind. Morton Feldman machte «Patterns in a Chromatic Field»…

AG Und «Why Patterns».

DC Genau. Ich habe Give My Regards to Eighth Street [Feldmans gesammelte Schriften inklusive veröffentlichter Artikel, Liner Notes, Vorlesungen, Interviews und unveröffentlichtes Textmaterial, erschienen bei Exact Change]. Sein literarisches Werk ist wunderschön. In einem Text verweist er auf sein Interesse für Perserteppiche. Es geht um diese handgemachte Qualität – es kann sein, dass da ein kleiner Knoten in der Masche ist. Daran erkannt man, dass es ein menschliches Werk ist – nicht von einer Maschine hergestellt. Manchmal zeichne ich meine Stücke wie eine Partitur, bevor ich sie aufnehme, damit ich herausarbeiten kann, wie ich sie strukturiere. Die meiste Zeit passiert das völlig intuitiv. Manchmal erstelle ich auch grafische Partituren, um herauszufinden, wie ein Stück zu strukturieren ist.

AG Eine der Sachen, die ich an deiner Musik so erfrischend finde, sind ihre Klarheit und Direktheit. Und dadurch, dass auf den Alben – Xeric, Glacial und Ulex – alle Stücke «pattern» heissen und durchnummeriert sind, hat der Hörer etwas, um sich festzuhalten. Gleichzeit ist da Raum zum Atmen, in klanglicher wie in konzeptueller Hinsicht, was ich recht ungewöhnlich finde.

DC Danke. Das klingt nett, finde ich.
AG Warum Glacial [eisig, glazial]? Ist das ein Motiv?

DC Ja, wobei es auch einen persönlichen Bezug für
mich hat. Der Ausdruck funktionierte jedoch
auch mit der Musik wirklich gut.

AG Alles klar, dann zur letzten Frage Was hast du in
letzter Zeit so gehört?

AG Nach all diesen Sachen möchte ich noch eine weitere Frage stellen Magst du Tanzmusik? Magst du Klubs?

DC Ja. Das Berghain beispielsweise ist in meinen Augen brilliant – aber ich habe schon immer irgendwie alles gemocht. Ich mochte immer House und Techno, aber mir gefällt auch Noise und experimentelle Musik. Früher bin ich immer in einen Klub namens Trade gegangen; das ist ein legendärer Londoner Klub für Hard House. Ich ging zu dieser Klubnacht Kaos, wo ich vor ein paar Jahren auch ein paar Mal aufgelegt habe. Die Reihe wurde von Lee Adams betrieben, einem Performancekünstler, der als Choronzon auflegt. Die haben Kollaborationen mit Performancekünstlern wie Ron Athey gemacht. Ich glaube, dass sie sich im Moment auf ihre monatliche Klubnacht konzentrieren. Wie auch immer, ich habe einen Fuss im Experimentellen und einen Fuss in der Dance/ Techno/ Klubkultur – wie auch immer man das bezeichnen möchte. Als ich Teil von No Bra war, veröffentlichten wir Munchausen als 12” und ich gab zwei Remixe in Auftrag. Einer war Elektro, der andere Acid Techno auf 156 BPM. Vor zehn Jahren noch haben die Leute das nicht wirklich verstanden. Heutzutage – das hat vielleicht mit dem Internet zu tun – scheinen die Menschen sich nicht mehr an nur ein paar Genres festzuklammern. Vor ein paar Jahren noch hätten die experimentellen Leute nichts mit Percussion gemacht, nichts mit Beats oder Rhythmus. Heute ist das überall – das ist irgendwie komisch. Vor ein paar Jahren rümpften die Leute angesichts meiner Arbeit die Nase, aber inzwischen hat sich jeder zum Paulus gewandelt was Techno angeht und alle reden plötzlich über Basic Channel und Sachen auf Ostgut Ton. Ich weiss nicht, ob das ein britisches Ding ist.

AG Das bezweifle ich. In Berlin scheint es zwar, als seien die Szenen alle irgendwie mit bestimmten Orten verknüpft – die Ausland-Leute gehen eher nicht ins Berghain oder ins Ohm, und andersherum. Aber es gibt immer mehr Überschneidungen.

DC Genau. Den Leuten gefällt diese Vielfalt. Das wissen auch die Promoter. Sie wissen, dass es Appetit für Sachen gibt, die zuvor noch nicht gesehen wurden. Ich meine, wenn Adorno dachte, wir wären am Ende der Musik angelangt, dann sind wir jetzt endgültig am Ende angelangt, in konzeptueller Hinsicht. Die Ohren der Menschen sind offener geworden.

AG Du hast also gutes Timing.