Mit Reggae fand Jamaika zu Beginn der 70er Jahre, nach Ska und Rocksteady, zu einem Musikstil, der sowohl musikalisch als auch inhaltlich unverwechselbar und für eine Generation von Menschen identitätsstiftend war. Er war geprägt von den sozialen und politischen Themen der Zeit: Dem bürgerkriegs-ähnlichen Entwicklungsprozess in die Unabhängigkeit, dem harschen Leben im Ghetto, der Verquickung der Folgen der Sklaverei mit der Rastafari-Kultur. Unterstützt von den Techniken des Dub[1] drängte der Roots Reggae auf «righteousness»: Die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit, Kapitalismuskritik, Aufbruch und Revolution.
Das änderte sich zu Beginn der 80er Jahre. Das Scheitern der sozialistischen Experimente von Jamaicas Premierminister Michael Manley beendete auch den Austausch zwischen Produzenten, Künstlern und der sozial-politischen Führungsschicht. Not und Gewalt im Ghetto nahmen zu. Die Ganja-basierte «ital culture» der Rastafari konnte ihr Heilsversprechen nicht einlösen: Kokain und Crack begannen die Stimmung an den Soundsystem-Partys zu prägen. Nach einer Phase globaler Verbreitung von Reggae entstand mit Bob Marleys Tod im Mai 1981 ein Vakuum. Sein Erfolg basierte auf einer Variante, die von der Pop-Industrie in die Ästhetik des Mainstream Rock integriert worden war – womit für einen Grossteil der westlichen und weissen Hörerschaft Reggae mit Bob Marley begonnen und aufgehört hatte. Nach seinem Tod brachen die Verkäufe ein. Reggae wurde von vielen internationalen Labels fallen gelassen. Die Produzenten zogen sich zurück und machten Dancehall, benannt nach dem Ort, an dem alles begonnen hatte und an dem sich die inzwischen gründlich desillusionierten Menschen vor allem amüsieren wollten.
An diesem Punkt verläuft die kreative Entwicklung aus Bradleys Sicht im Sand. Roots erstarrt musikalisch wie auch lyrisch, wird formelhaft und ökonomisch ausgepresst. Schliesslich verlieren 1985 sowohl Musiker als auch Studios praktisch über Nacht wegen der neuen, mit Casio-Drumcomputern programmierten Rhythmen ihre Nachfrage. Der von King Jammy produzierte und von Wayne Smith besungene Song «Under Mi Sleng Teng» basiert auf einem Riddim ohne den von Reggae tradierten Basslauf und ändert die Verhältnisse in der jamaikanischen Musikindustrie von Grund auf. Nun können Menschen ohne jegliche musikalische Bildung bei sich zuhause produzieren, indem sie das Vorhandene ad libitum remixen und neu besingen. Das ist nicht nur Bradley suspekt – Dennis Bovell etwa beschwert sich: «Reggae glitt in seine Karaoke-Phase ab.»
Digi-Dub ebnet nun den Weg zum Dancehall der 90er Jahre: Das Tempo der Musik nimmt zu, das Toasting verändert sich. Der flächendeckende Sprechgesang des Rub-A-Dub wird zu Ragga und zum Vorläufer von Rap und HipHop. Er versprüht Wortspiel, Witz und Frivolität. «Culture» und «consciousness» drohen verdrängt zu werden durch «slackness» und «punaani» sowie den «reality style» und «rudebwoy style». Wesentliche Inhalte und kommerzielle Treiber der Musik sind nun Sex(ismus) und Gewalt(verherrlichung). Buju Bantons offen propagierte Homophobie in «Bye Bye Boom» etwa ist eine der bedauerlichsten Manifestationen der mitunter haarsträubenden Geschlechterordnung in der jamaikanischen Gesellschaft. Für Bradley sind so ein Verlust des Bezugs zur eigenen Geschichte und die bedenkenlose Einstellung zum Musik-Geschäft die wichtigsten Argumente dafür, dass die Entwicklung von Reggae Mitte der 80er nicht mehr weitergeht. Damit mag er teilweise Recht haben: Roots Reggae hat sich nicht mehr weiter entwickelt, seine Botschaft hatte sich abgenutzt und wurde obsolet. Doch trotz seiner künstlerisch ruinösen Kommerzialisierung ist Dancehall sowohl seine Fortsetzung als auch der entscheidende Drehpunkt in einem Prozess der Zerfaserung, aus dem unter anderem Jungle, Drum’n’Bass, Dubtechno, Dubstep, 8-bit Reggae und Bass Music hervorgegangen sind. Obschon einige dieser Stilrichtungen auf die Vermittlung inhaltlicher Botschaften ganz verzichten, nehmen sie bedeutende Aspekte der Reggae-Kultur auf und treiben sie – bezeichnenderweise ausserhalb von Jamaika[2] – weiter. Es sind Effekte der Globalisierung und der Computer-Technologie, die einen durchaus kreativen Exzess von Repetitionen, Remixes, Sampling, Retro-Bewegungen, Reissues und schliesslich der ständigen Verfügbarkeit von allem ermöglichten.
Wenn Bradley also um die Jahrtausendwende behauptet, dass sich «in zwanzig Jahren» niemand auf die Neuausgabe eines Ragga-Albums freuen würde, belegt er sowohl seinen Kulturpessimismus als auch das Versagen seines Vorstellungsvermögens. Heute können wir uns einfach vergewissern, dass bisher in jeder Dekade relevanter und unverwechselbarer Reggae produziert wurde. Allerdings ist es nötig, sorgfältig zu selektieren und kenntnisreich zu unterscheiden zwischen Roots, Dancehall und Karaoke.
[1] siehe Basslinien-Kolumne in zweikommasieben #11
[2] siehe Basslinien-Kolumne in zweikommasieben #13
Lloyd Bradley (2003). Bass Culture: Der Siegeszug von Reggae. St. Andrä-Wördern: Hannibal Verlag
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In der Basslinien-Kolumne stellt Marius ‚Comfortnoise‘ Neukom jeweils Buchveröffentlichungen vor, die sich in verschiedenen Formen auf die Dub-Kultur beziehen. Dabei arbeitet er die Essenz der jeweiligen Publikationen heraus, kontextualisiert sie und führt Gedanken der Autoren weiter. Eine kommentierte, mit weiteren Ton- und Text-Referenzen versehene Version dieser Kolumne findet sich hier.
Weitere spannende Einträge der Kolumne, andere Themen sowie die monatliche Charts finden sich zudem auf dem von Neukom betriebenen Blog Dubexmachina.