Aufgewachsenen ist sie in Asheville, im US-Bundesstaat North Carolina. Harfe spielt Mary Lattimore seit sie elf ist. Damit zu experimentieren begann sie aber erst in Philadelphia, wo sie nach der klassischen Ausbildung an der Eastman School of Music in Rochester, New York, unter anderem mit Psych-Folk-Bands wie Espers, Fern Knight und Fürsaxa arbeitete und auf Alben von Thurston Moore, Jarvis Cocker oder Kurt Vile spielte.
In Philadelphia begann auch Lattimores langjährige Zusammenarbeit mit Multi-Instrumentalist und Produzent Jeff Zeigler. Die beiden veröffentlichten eine Reihe gemeinsamer LPs, darunter Slant of Light und Music Inspired By Philippe Garrel’s Le Révélateur [beide bei Thrill Jockey, 2014 bzw. 2016]. Jüngst erschienen zudem Lattimores Solo-LP Hundreds of Days sowie eine Remix-Platte davon [beide bei Ghostly International, 2018 bzw. 2019] mit Beiträgen von Jónsi über Juliana Barwick bis King Britt, und New Rain Duets [Three Lobed Recordings, 2019] mit Mac McCaughan.
Aktuell arbeitet Lattimore mit Gitarrist William Tyler an einer gemeinsamen Performance fürs Le Guess Who? Über E-Mail erklärte sie Melanie Biedermann, was ihr Sound mit Diamanten zu tun hat.
Melanie Biedermann Mary, deine Mutter spielt Harfe im Orchester. Du hast für dich dasselbe Instrument gewählt und bist ihm bis heute treu geblieben. Was macht die Harfe für dich so besonders?
Mary Lattimore Ich glaube, diese starke Verbindung wurde schon im Bauch meiner Mom gefixt. Sie hat während ihrer Schwangerschaft viel geübt – ich muss den Sound absorbiert haben.
MB An klassische Harfenmusik erinnert deine Musik allerdings kaum noch.
ML Ich dachte eigentlich lange, dass ich auch mal im Orchester spielen werde. Und mein Sound ist immer noch instrumental, aber ich sehe ihn als eine Art strukturierte Improvisation. Ich arbeite viel mit Loops und beim Klang denke ich etwa an zerstossene Diamanten, die sich aneinander reiben. Oder an entschleunigte Unterwasser-Szenen.
MB Welche Art Musik beeinflusst dich in deiner eigenen Praxis?
ML Ich liebe melancholische Songs, satte Harmonien, Synths und ausladend gelayerte Sound-Wände. Der Song «Don’t Weigh Down the Light» von meiner besten Freundin Meg Baird erinnert mich etwa an den traurigen Abschied von unserem Quartier in Philadelphia. Hundreds of Days birgt ein ähnliches Gefühl; es ging darum, etwas hinter sich zu lassen, ohne zu wissen, wohin es als nächstes geht.
MB Wie entstand Hundreds of Days?
ML Wir haben es im Rahmen einer Artist Residency in einer Scheune an einem wilden Küstenabschnitt Kaliforniens aufgenommen. Mein Herz war zu dem Zeitpunkt etwas gebrochen und die Arbeit am Album tat mir damals sehr gut. Ich wollte aus der Melancholie und dieser wilden Natur, die mich umgab, etwas entstehen lassen.
MB Was soll die Musik beim Hören auslösen?
ML Darüber dachte ich damals nicht nach. Aber natürlich finde ich es grossartig, wenn meine Musik auch anderen etwas bringt – jemandem etwa beim Entspannen oder bei der Arbeit hilft, oder ihn auf einem Roadtrip begleitet. Am schönsten finde ich es aber, wenn Leute beim Hören das Cover von Becky Suss anschauen – wenn also quasi das Gesamtpaket ankommt.
MB Wie definierst du Erfolg?
ML Erfolg ist, wenn es vorwärts geht. Wenn man mit anderen Künstlerinnen kollaborieren oder sich mit Hörern austauschen kann. Erfolg ist, wenn einem der Gedanke an die nächste Miete nicht mit Angst erfüllt. Erfolg ist aber auch, an neue Orte zu reisen. Oder die Befriedigung eines abgeschlossenen Projekts; es ist eine Kombination dieser Dinge.
MB Kollaboration ist ein grosses Thema in deiner Arbeit. Ist dir eine besonders in Erinnerung geblieben?
ML Als ich neulich mit Joe DeNardo von Growing and Ornament spielte, war das sehr besonders. Ich war schon ewig Fan und habe ihn so lange genervt, bis er zusagte. Wir spielten eine Show in Brooklyn und trafen uns in Russland wieder. Wir kannten uns kaum, sassen dann aber stundenlang gemeinsam im Auto um ans Signal Festival zu fahren. Während unserem Set regnete es, aber die Leute blieben im Feld stehen; es wurde zu einem dieser seltsamen, aber gleichzeitig wunderschönen Momente.
MB Wie kam es zur Zusammenarbeit mit William Tyler fürs Le Guess Who? Kannst du schon andeuten, was uns dort erwartet?
ML Willy und ich sind schon seit Jahren eng befreundet. Wir sind beide etwa zur selben Zeit nach LA gezogen. Er hat mir zu meinem Geburtstag diese coole Halskette mit einem Jungfrau-Anhänger geschenkt – mein Sternzeichen. Die trag ich jeden Tag. Wir haben aber noch nie zusammen gejammt, deswegen freue ich mich sehr aufs Set in Utrecht. Ich will versuchen an seinen Cosmic Pastoral Sound anzuknüpfen. Wir arbeiten gerade auch noch an einem anderen Projekt für ein Festival in den USA nächstes Jahr.
MB Welche Künstler willst du dir während dem Festival ansehen?
ML Auf jeden Fall Leya, da spielt meine Harfenisten-Freundin Marilu Donovan. Und Kali Malone [siehe zweikommasieben #19], die ich eben erst in Spanien gesehen habe. Ich bin gespannt, was sie für Utrecht vorbereitet. Ayalew Mesfin und Richards Youngs werden auf jeden Fall grossartig – es sind so viele! Ich freue mich aber auch einfach darauf, mich überraschen zu lassen.
MB Kannst du dich erinnern, welche Musik dich zum ersten Mal begeistert hat?
ML Das war wahrscheinlich Bruce Springsteen oder etwas, das meine Mom im Van hörte. Vermutlich auch Emmylou Harris, Linda Ronstadt und Dolly Parton. Und ich bin grosser Cure-Fan seit ich elf bin. Zurzeit steh ich sehr auf das neue Nivhek-Album. Ich höre auch gerade Neighborhoods von Ernest Hood, das auf dem Label von meinem Freund Pete erscheint. Sehr coole Synths und Sound-Collagen.
MB Deine Instagram-Biografie sagt, dass du in LA stationiert bist, aber überall hingehen würdest. Was war dein Highlight bisher? Und wo wäre deine Traumdestination?
ML Eine Performance am Sydney Festival hat sich eingebrannt. Da spielte ich an einem Schwimmbad, die Musik wurde ins Wasser gepumpt und hunderte Leute liessen sich treiben. Der Vibe war grossartig! Meine Traumdestination bleibt aber dieses pinke Hotel in Honolulu, das Royal Hawaiian. Da will ich hin, seit ich es als Kind in einer Broschüre gesehen habe. Eines Tages klappt das.
MB Haben sich deine Gründe Musik zu machen über die Jahre verändert?
ML Nein, mich haben schon immer die Liebe zur Musik und die Möglichkeit mit anderen Künstlerinnen zu arbeiten angetrieben. Natürlich geht es auch ums Geldverdienen, aber ich glaube am Ende wollen wir uns alle auf eine Art ausdrücken und kreativ sein. Musik gehört für mich zum Menschsein. Sie zu machen, zu hören und zu teilen ist quasi ein Grundbedürfnis.