Die italienische Musikerin Caterina Barbieri [siehe zweikommasieben #19], die jüngst mit der Veröffentlichung des Albums Ecstatic Computation auf Peter Rehbergs Editions Mego [siehe zweikommasieben #17] für Aufsehen sorgte, empfing mit ihrem Modular-Synthesizer-Konzert das Publikum zu Beginn des diesjährigen Terraforma Festivals. Dieser Einstieg war nicht nur passend, weil es sich bei Barbieri um eines von mehreren lokalen Aushängeschildern der Veranstaltung handelt. Ihre Musik, die gut und gerne mit dem Attribut «barock» beschrieben wird, passte auch perfekt ins Setting: Terraforma findet nämlich in der grosszügigen Gartenanlage der barocken Villa Arconati ausserhalb Mailands statt. Dort präsentierte das Festival vom 5. bis 7. Juli wie schon in den fünf Jahren davor «Experimental And Sustainable Music». Das Programm des Eröffnungsabends erwies sich als vielfältige Rundschau aktueller Musik. Auf Barbieri folgten Performances der amerikanischen Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson, des in Japan lebende Algo-Rave-Pate Renick Bell [siehe zweikommasieben #17] und des deutschen Sounddesign-Profs und Ableton-Godfathers Monolake, bevor Efdemin [siehe zweikommasieben #19] und Marco Shuttle sowie DJ Stingray [siehe zweikommasieben #16] den Abend mit Berghain-Techno respektive hartem Detroit Electro abschlossen.
Der Samstag war in zwei Teile gegliedert, die von einem heftigen Gewitter am frühen Abend unterbrochen und darum auch zeitlich voneinander getrennt wurden. Am Nachmittag spielte der Salon-Des-Amateur-Resident Vladimir Ivkovic [siehe zweikommasieben #18] langsamen Big Beat, Drum’n’Bass und Trip Hop, gefolgt von einem etwas holprigen, aber sehr sympathischen DJ Set von Mica Levi, die ihre Freude an der von ihr abgespielten Musik nicht versteckte. Nach dem heftigen Platzregen am frühen Abend leitete Lorenzo Senni [siehe zweikommasieben #18] die zweite Programmhälfte ein: Der Italiener übersetzte seine Tracks, die er vor sieben Jahren als Stargate auf dem Mailänder Label Hundebiss veröffentlichte, und weitere Stücke auf (s)eine neu formierte Metal-Band, zu der unter anderem der Gitarrist Eddy Current zählt. So wurde etwa die wunderschöne Etüde «Driving Hyperreality» zum Hintergrund eines üppigen Gitarrensolos – und Senni nach Yves Tumor bereits zum zweiten Warp-Act, der sich dieses Jahr mit einer Rock-Band auf der Bühne zeigte. Gefolgt wurde das Konzert von Juliana Huxtable, die während zwei Stunden um die 160 Tracks [sic!] in einem Sync-Massaker auf nicht viel weniger BPM durch den lauschen Garten jagte, einem Live-Set des russischen Produzenten Buttechno (der die Geduld des Publikums mit einem nach Huxtable lange wirkenden Intro auf die Probe stellte), sowie ein DJ Set vom Pariser Whities-Signee Bambounou.
Der Sonntag indessen wurde von zwei weiteren Hundebiss-Acts gerahmt: Kelman Duran [siehe zweikommasieben #20], der von Boomkat jüngst den schönen Titel «Reggaeton’s answer to Burial» erhielt, spielte just nach dem Mittag, während der italienische Label-Chef Simone Trabucchi mit seinem Projekt Still [siehe zweikommasieben #20], das, wie er selbst sagt, sich mit den oftmals übersehenen Verbindungen zwischen seiner Heimat, Äthiopien und Jamaika beschäftigt, den Abschluss des Live-Programms markierte. Dazwischen ging es nochmals bunt zu und her: Auf die Kanadierin Ramzi, die aus dem Umfeld von Total Stasis stammt, folgten Sir Richard Bishop an der Gitarre sowie die Italo-Dub-Techno-Legende Donato Dozzy und der Footwork-Dad RP Boo hinter dem DJ-Pult.
Das Festival zeichnete sich also durch ein solides – und, worauf die vielen in eckigen Klammern vermerkten Bezüge auf vergangene und kommende Ausgaben von zweikommasieben hinweisen, diesem Magazin entsprechenden – Booking aus, keine Frage. Fragen lässt sich aber, inwiefern der Sound des Festivals experimentell ist. Die einzelnen Positionen sind es, natürlich. Aber welcher Künstler in diesem Umfeld würde das Experiment nicht für sich als Methode beanspruchen? Betrachtet man zudem die Dramaturgie und die Zusammensetzung des Programms innerhalb dessen, was sich seit einiger Zeit als «experimentelle Musik» beschreibt, erscheinen diese als ziemlich gewöhnlich: Bis zur Dämmerung sind langsame, wirre oder gar keine Beats zu hören. Danach kickt es benutzerfreundlich zwei bis drei Mal pro Sekunde. Auch ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Ausstellungen etc. ändert daran nicht viel (auch wenn es Lob verdient – insbesondere der von Francesco Cavaliere co-kuratierte Programm «C-Cascate Alphabetiche» mit Leila Hassan, James Ferraro und weiteren). Ebenfalls kennzeichnend dafür ist der Umgang im Backstage, der sehr familiär ist. Dies lässt einerseits auf gute Gastfreundschaft schliessen – die sich übrigens auch an verschiedenen anderen Stellen des Festivals zeigte –, anderseits aber auch darauf, dass sich die Künstlerinnen untereinander kennen und es sich beim Programm eher um den Courant normal, als um ein tatsächliches Experiment handelt.
Und was ist mit der Nachhaltigkeit? In einer Zeitung, die anlässlich des Festivals erschien, und auf kleinen Holztafeln in der Gartenanlage werden die Besucherinnen und Besucher auf verschiedene Massnahmen bezüglich Nachhaltigkeit hingewiesen: Man solle bitte den Trink-Becher wiederverwenden, den selbst generierten Müll trennen, nur so viel Wasser verwenden wie nötig etc. Die Hinweise sind lobenswert und manifestierten sich grösstenteils tatsächlich in Handlungen: Die Gäste waren bemüht, sich entsprechend zu verhalten. Diese Hinweise – und weitere Massnahmen, wie etwa die Mobilität der Festivalmacherinnen und die Anreise der Besucher – werden in einem Sustainability Report, der auf der Website des Festivals zugänglich ist, unter dem Punkt «Low Impact» beschrieben. Darüber hinaus engagiert sich das Festival, wie auf der Website und im erwähnten Report geschildert wird, um einen möglichst bescheidenen ökologischen Fussabdruck: Die Bühnenkonstruktionen werden dabei thematisiert, ebenso der Wiederaufbau von Teilen der Parkanlage, auch Diversität und Inklusion werden hier erwähnt. Erstaunlich ist aber, dass sich diese Überlegungen nicht auf das Programm übertragen. Über ein Drittel der eingeladenen Acts (10 von 24 im Hauptprogramm) leben auf anderen Kontinenten und dürften entsprechend allein aufgrund der Anreise einen beachtlichen CO2-Abdruck hinterlassen. Dieser Umstand wird nirgends thematisiert, weder auf der Website, noch in der erwähnten Zeitung, noch im Diskursprogramm. In einem Umfeld, das bei vielen seiner Protagonistinnen Vielfliegerei voraussetzt, bestünde für ein Festival, das Nachhaltigkeit für sich als Core Value beansprucht, durchaus das Potential, sich entschiedener in Bezug auf den ökologischen Fussabdruck seiner Künstler zu positionieren oder das Thema im Rahmenprogramm anzusprechen und zu problematisieren.
Natürlich ist die Frage bezüglich Nachhaltigkeit nicht mit «ja» oder «nein» zu beantworten. Und irgendwo muss man anfangen. Das Terraforma Festival macht dies eindeutig. Und denkt man Nachhaltigkeit nicht eng im Sinne von Umweltschutz oder Klimakampf, sondern versteht den Begriff als das Erhalten oder Bewahren von etwas, so erweist sich Terraforma als noch nachhaltiger: Das Festival vermag es, ein Biotop zu schaffen, in welchem sich «experimentelle Musik» entfalten kann. Terraforma bietet nämlich optimale Bedingungen – eine gute Portion Idealismus und Enthusiasmus, eine aussergewöhnliche Location, ein interessiertes Publikum, solide Infrastruktur – für Nischen-Musik und trägt so sicher zu deren Weiterbestehen bei.