Mathis Neuhaus traf sich mit Parris anlässlich seines Auftritts in der Wilden Renate in Berlin. Zusammen sprachen sie über die verschiedenen Aspekte der Musikkuration, wie Geschichte zu einer (Alt-)Last werden kann und warum Parris entgegen seines Willens ein Minimalist ist.
Mathis Neuhaus Du hast im Black Market Records in London gearbeitet – eine Ikone unter den Plattenläden. Was ist das Geheimnis einer treffenden Plattenempfehlung?
Dwayne Parris-Robinson Es hat etwas damit zu tun, wie man Menschen lesen und verstehen kann. Wenn jemand nach einer Empfehlung fragt, kann man mit ein paar wilden Vorschläge einsteigen und dann anhand der ausgelösten Reaktionen weitere Empfehlungen abgeben. Das ist am wichtigsten bei Leuten, die mit einer bestimmten Vorstellung ankommen; dieses Vorgehen lässt einem mehr Spielraum. Als ich bei Black Market Records arbeitete, war ich fürs Untergeschoss zuständig. Dort wurde damals Dubstep und Drum‘n’Bass sowie die anderen UK-Styles verkauft, die 2011 im Kommen waren… Kuration ist das richtige Wort, wenn man davon spricht, etwas aus Musik zu bauen, egal ob man als DJ spielt, Musik produziert oder Empfehlungen in einem Plattenladen abgibt. Die Leute verlassen sich auf das Wissen der jeweiligen Person und respektieren es, wenn man in einem anerkannten Laden wie Black Market Records hinter dem Tresen steht…
MN Die Kunden profitieren vom Verkäufer; gleichzeitig profitieren die Verkäuferinnen davon, in einem so renommierten Laden zu arbeiten…
DPR Ganz klar. In einem solchen Geschäft kommt so viel Musik rein und vieles davon hört man sich an. Man muss bedenken, dass Plattenläden sich normalerweise mit einem bestimmten Stil identifizieren. Idle Hands vertreibt bestimmte Musik, Hardwax auch und Phonica oder Sounds Of The Universe genauso. Wenn man sich in einer Nische befindet, bekommt man aber oft nur Sachen mit, die in diese Nische hineinpassen. Natürlich aber findet man ab und zu etwas, das aus der Reihe tanzt. Während meiner Zeit bei Black Market lernte ich am meisten über die UK-Styles, für die ich zuständig war. Im Obergeschoss wurde House und Techno verkauft; ich hatte aber wenig damit zu tun, weil jede Abteilung eigene Leute hatte, die tief in der jeweiligen Szene steckten. Wir gingen regelmässig in bestimmte Clubs, wobei es auch da Überschneidungen gab. Und wir gingen nicht nur zum Spass aus, sondern wollten neue Musik hören, die wir dann für den Laden bestellten.
MN Wie stark empfindest du zurzeit den Drang in London, sich von Grund auf neu zu erfinden?
DPR Die Szene in London und in Grossbritannien allgemein ist fragmentiert. Die Distanz zwischen verschiedenen Stilrichtungen fühlt sich grösser an als noch vor fünf oder sechs Jahren. Wenn etwas läuft, dann geschieht es an einem spezifischen Ort, hat eine spezifische Identität und man weiss, wohin es gehen soll. Verschiedene musikalische Palletten treffen und überschneiden sich immer seltener. Bassline ist ein gutes Beispiel dafür: Da passieren viele tolle Sachen, wovon aber kaum jemand ausserhalb dieser Welt etwas mitbekommt. Gleichzeitig interessieren sich die Leute aus dieser Szene wenig dafür, was um sie herum passiert. Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel. Ich glaube, in vielen Städte Grossbritanniens machen die Leute einfach ihr eigenes Ding – etwa in Glasgow, Manchester oder auch in Bristol. London ist einfach sehr gross, weshalb es sich in den jeweiligen Szenen manchmal noch abgekapselter anfühlt, als anderswo. Im Vergleich scheint es in Bristol ein besseres Supportnetzwerk zu geben und Künstler wie Pinch oder Labels wie Idle Hands scheinen sich in anderen Szenen viel leichter zurecht zu finden.
MN Das ist interessant. Du bewegst dich ja auch in verschiedenen Szenen und produzierst vielfältige Musik…
DPR Meine Musik ist stark von britischer Musik geprägt, wobei ich diese Einflüsse immer zu meinem eigenen Stil verarbeite. Grime und Dubstep haben mich geprägt – das waren die grossen Dinge während meiner Jugend. Ich übernahm die Klangpalette dieser Genres, machte aber etwas Eigenes daraus, indem ich zum Beispiel andere Tempos verwendete als üblich. Manchmal höre ich mir eines meiner Stücke an und denke, dass man es als Jungle bezeichnen könnte – vor allem wegen der Stimmung. Die Leute, die Jungle produzieren, würden mir wahrscheinlich nicht zustimmen, aber für mich ist es so. Es ist mir wichtig, in meiner Musik einen Bezug zu Grossbritannien zu haben, da ich von hier komme und die Kultur einen grossen Teil meiner musikalischen Herkunft ausmacht. Ich möchte den UK-Sound jedoch auf eine Weise verarbeiten, dass Leute in anderen Szenen einen Zugang dazu finden können.
Für mich geht es in der Musik um Neuerfindung. Ich benutze Tempos, die traditionell in House und Techno vorkommen; aber diese Genres beeinflussen mich eigentlich nicht. Der Einfluss kommt von Platten, die einst auf Shelflife, Soulja oder Tempa herauskamen, und frühe Produktionen von Photek oder Source Direct.
MN Du erwähnst Tempa. Dort hast du einst gearbeitet. Ich frage dich als Insider: Wie stark reflektiert in dienen Augen so eine Institution über sich selbst als Institution?
DPR Es war interessant, bei Tempa zu arbeiten, da man mir viel Freiraum liess. Ich habe viele langsame Platten zu Tempa geholt, wie etwa die Veröffentlichung von Alex Coulton oder Cliques, und das Label hat sich grösstenteils auf mein Gespür verlassen. Ich ging damals viel aus und sie gaben mir die Freiheit, neue Künstlerinnen zu finden. Es war ein gutes Gefühl, dieses Vertrauen zu haben. Die Leute bei Tempa kannten und verstanden ihre historische Rolle in der Entwicklung der Szene, aber es ging ihnen vor allem darum, die Musik frisch zu halten. Das ist schwerer, wenn man tief in einer spezifischen Geschichte verankert ist. Dabei erhielten einige Tempa-Platten nicht so viel Aufmerksamkeit, wie sie es verdient hätten, weil die Leute, die zu der Zeit bei uns Platten kauften, sich nicht für bestimmte Sachen interessierten. Tempa gab mir die Gelegenheit, diese weniger bekannten Gebiete zu erkunden. Dafür bin ich ihnen dankbar.
MN Wie schätzt du den Stellenwert der Geschichte der elektronischen Musik in Grossbritannien ein? Kann die fast schon erdrückend wirken? Über Nostalgie müsste man bei diesem Thema auch sprechen…
DPR Bis zu einem gewissen Grad kann die Geschichte zu einer Altlast werden. Man muss sich aber damit auseinandersetzen und aus ihr etwas Eigenes machen. Auch ist es nicht einfach, sich nicht von dieser Geschichte beeinflussen zu lassen – egal ob es um Acid House, Jungle, Garage, Grime, Dubstep oder etwas dazwischen geht. In Zeiten wie den Neunzigern und frühen Zweitausendern, als Garage kommerziell unglaublich erfolgreich war, war es schwer, diesem Sound als Künstler und als Person aus dem Weg zu gehen. Für mich hat Musik aus Grossbritannien einen eigenen Charakter, auch wegen ihrer Geschichte. Auf den frühen Photek-Platten hört man, dass es sich um eine Photek-Platte handelt. Das gilt auch für die frühen Grime-Sachen von Wiley oder Boy Better Know. Es war zwar vielleicht nicht der beste Sound, aber diese Musik hat einen spezifischen Charakter, den man sofort erkennen konnte. Die Stücke von Ruff Squad aus dieser Zeit klingen schlicht und einfach wie London. Besser kann man das gar nicht beschreiben.
MN Das führt mich zu einem anderen Thema, das ich gerne besprechen würde. Ich habe den Eindruck, dass der Begriff «Sounddesign» zurzeit inflationär benutzt wird, vor allem in Bezug auf zeitgenössische UK-Künstler. Ich denke an Objekts aktuelles Album Cocoon Crush [Pan, 2018] oder Pearson Sounds EP Rubble [Pearson Sound, 2018]…
https://www.youtube.com/watch?v=xPNPr7U4Qw8
DPR Objekts Sounddesign ist phänomenal und extrem detailliert. Denkt man über Sounddesign nach, muss man nach dem Kontext fragen und danach, was jemand erreichen will. Das Sounddesign kann beim Komponieren sehr wichtig sein, wenn man sich einen in sich geschlossenen Sound zum Ziel gesetzt hat. Weniger relevant sind Fragen diesbezüglich, wenn man an einer Dancefloor-12” arbeitet, die in erster Linie richtig reinhauen soll. Da will man einfach, dass es gut klingt, aber das Sounddesign an sich muss nicht so raffiniert sein.
MN Wie ist es in deinem Fall?
DPR Ich lerne immer noch, wie man richtig hört, und auch wie ich meine Ideen musikalisch umsetzen kann. Die Struktur der Musik spielt eine grosse Rolle und ich habe meistens eine klare Vorstellung davon, wie ich ein bestimmtes Stück aufbauen möchte. Aber Klänge und deren Design sind ein Thema für sich. Als ich mit dem Produzieren von Musik anfing, ging es mir vor allem darum, herauszufinden, ob etwas hängenbleibt. Je mehr man seinen eigenen Arbeitsprozess entwickelt, desto klarer wird einem, dass man einen bestimmten Klang im Sinn hat und diesen finden will.
MN Würdest du deine Musik als minimalistisch bezeichnen?
DPR Ich denke, diese Beschreibung ist zutreffend, da ich nicht viele Klänge benutze. Wenn ich mit einem Stück fertig bin, ist da meistens nicht mehr viel drin, wobei auch hier gilt, dass ich am Lernen bin. Unter anderem versuche ich zu verstehen, wie ich unterschiedliche Elemente in meiner Musik unterbringen kann. Als ich meine ersten Stücke schrieb, benutzte ich keine Kick-Drums und Snares, weil mir dabei nicht wohl war. Ich setzte solche Elemente einfach nicht ein, beziehungsweise schaffte ich mir einen eigenen Raum, in dem ich mich nicht auf solche Klänge stützen musste. Aber irgendwann, als ich mich mit diesen Elementen wohler fühlte, habe ich sie auch häufiger in meine Stücke eingebaut. Das machte auch Sinn für mich, nachdem ich meinen eigenen Sound gefunden hatte. Ich habe auch erst vor einem halben Jahr mein erstes analoges Gerät gekauft. Vorher geschah alles im Kasten: Computer, Boxen, Samples und Klangmanipulationen nach meinem Geschmack.
MN Interessant. Musikerinnen stehen heute ja alle erdenklichen Sounds zur Verfügung, wenn sie mit einem Computer arbeiten. Analoge Geräte, so sagen gewisse Produzenten, helfen einem, sich nicht in dieser schieren Unendlichkeit zu verlieren.
DPR Ja, das stimmt, und ich bin sehr wählerisch in Bezug auf Klänge, die ich verwenden will. Das habe ich über die Jahre gelernt. Ich sass vor einer endlos grossen Klangbibliothek und merkte, dass ich eigentlich nichts darin mochte. Aus diesem Grund wurde ich so minimalistisch: ich wollte nichts in meiner Musik, das nicht dahin gehört. Ich mag das Gefühl nicht, den Raum mit etwas füllen zu müssen. Wenn da Platz ist und das Sinn macht, dann bevorzuge ich es, diesen Platz leer zu lassen, damit man darin aufatmen kann. Ich fokussiere mich auch eher auf die tiefen und hohen Frequenzen. Die Mitten sind bei mir relativ leer, was dazu beiträgt, dass meine Stücke minimalistisch wirken. Diese Leere gibt den anderen Klängen auch mehr Raum, um sich ausbreiten und entfalten zu können.
Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt von N. Cyril Fischer. Die englische Version des Interviews findet sich in zweikommasieben #19.