13.06.2017 von Anna Froelicher

Fiktion verorten – Drexciyans unter uns!

Ein ruhiger Samstagabend in einer belanglosen Stadt Europas. Sagen wir eine Küstenstadt im südlichen Italien. Ein paar Leute erledigen schnell noch Sonntagseinkäufe, ein paar machen sich fertig für den Klub, einige hocken auf der Piazza. Die Luft steht, es ist immer noch heiss. Alles deutet daraufhin, wie gestern und morgen zu sein. In einer Gasse steht ein Fenster offen, man hört etwas undeutlich die Stimme einer Nachrichtenmoderatorin: «… erneut Boot gekentert … Mittelmeerküste … 130 Menschen über Bord … Tote …» Am Ende der Gasse fährt eine alte Frau auf einer Vespa vorbei. Dann – anfangs kaum merklich, aber bald schon mit 120 dB – kommt vom Strand her ein tiefes Wummern entgegen. Wwwwumm Wwwwumm. Ist das eine Bassdrum? Sie nähert sich, die Meereswellen tragen sie zur Promenade, in die Pizzeria neben der Kirche, in die Kirche, durchs Treppenhaus schleicht sie sich ins Wohnzimmer, die Klubs öffnen ihre Türen, das Wummern kommt auch von da, es erfüllt die Gassen und Plätze, bis wir nicht mehr unterscheiden können, ob es aus uns selbst kommt oder sich wie das Wasser eines sonischen Tsunamis um uns ausbreitet. Eine funky Hi-Hat kommt dazu; zwei, drei, vier Moog-Töne, Maschinenrythmen. Wie klingt das?

«The Return of Drexciya», es zischen uns die Beats in die Ohren, kidnappen unsere Gehöre und tippeln uns auf den Oberkörper.

Was klingt wie das Drehbuch zu Roland Emmerichs Went Mad On The Dancefloor, ist ausserhalb des weissen Hollywoods schon längst Realität: Die Geschichte der Drexciyaner beginnt in der Zeit des middle passage, wo kolonialisierte Schwarze von weissen Kolonialherren auf Schiffe verfrachtet wurden und als afrikanische Sklaven ins Land der Freiheit deportiert wurden. Diese Schiffe waren nicht nur Verkörperungen eines neuen Welthandels, sondern auch Orte mit eigenen Regeln und Gesetzen. Schwangere Frauen wurden über Bord geworfen, da sie in den Augen der Sklaventreiber keine ökonomische Verwendung hatten, und ertranken in den Wogen des Atlantiks. In der drexciyanischen Historie verschwinden diese Körper mit ihrem Fall unter die Wasseroberfläche jedoch nicht von der Sinnesfläche. Sie bilden den Grundstein ihrer Geschichte: Die Embryonen der schwangeren Frauen, die im Mutterleib gelernt hatten, Sauerstoff aus dem Fruchtwasser zu absorbieren, kamen als Frühgeburten zur Welt und behielten so diese aussergewöhnliche Fähigkeit auch nach der Geburt bei. Sie entwickelten sich zu posthumanen Unterwasserwesen, ausgestattet mit jeder Menge aquatischer Energie.

Der Mythos der Drexciyans, der Unterwasser-Aliens des Black Atlantic[1], die «ihre aquatische Invasion gegen die audiovisuellen Programmierer starten»[2], findet in der afrofuturistischen Geschichtswissenschaft[3] sein deutlichstes Zeugnis auf Drexciyas The Quest (Submerge Records). Die 1997 erschienene Doppel-CD outet ihre Produzenten James Stinson und Gerald Donald als Abkömmlinge der drexciyanischen Spezies und hat dem Duo, um dessen Beschaffenheit gerne gerätselt wurde, endgültig eine eigene Identität verliehen, ja ihm sogar eine ganze Spezies entworfen. Oder war es umgekehrt?

Wer Drexcyia Tracks wie «Hydro Cubes», «Seaquake» oder «Dr. Blowfins’ Black Storm Stabilising Spheres» hört, weiss um deren körperliche Wirkmacht und erfährt, wie die Unterwasserwesen mit jedem wobble-Arpeggio näher rücken, Richtung westlichem Land.

Die Tragödie von Männern, Frauen und Kindern, die mitunter aufgrund unterlassener Hilfeleistungen in überfüllten Booten auf dem Weg von Afrika nach Europa ertrinken, ist heute genauso aktuell wie gestern und vorvorgestern. Was wäre, wenn sich nicht nur diese Geschichte der schwarzen Körper wiederholt, die von westlichen Allmachtsphantasien und deren Angstprodukten heimgesucht, auf Überfahrten ertrinken, sondern auch der Beginn des Drexciya Mythos? Was wäre, wenn sich die Kinder der Verunglückten den drexciyanischen Undersea Dwellers anschliessten und ohne unsere leiseste Ahnung unter der Wasseroberfläche zu Sauerstoff absorbierenden Wasserwesen mutieren, wie sie noch nie gesehen wurden? Was, wenn in Atlantis irgendwo zwischen Gibraltar und thyrrenischem Meer eine Soundstation aufgebaut wurde, die kontinuierlich, in repetitiver Wucht Schallwellensonden aussendet, die gegen die Festung Europa brausen und diese in einem Krieg ohne Waffen[4] auf dem Tanzparkett, immer wieder zum Einsturz bringt?

Die «Aquanergy» von Drexciya kann sich gemäss den Gesetzen der Physik oder der Esoterik nicht verflüchtigt haben. Sie muss sich transformieren und in stets neue ästhetische Formen mutieren: Auch wenn der Link vom Atlantik zum Mittelmeer ein Gedankenspiel bleibt, lässt sich die Präsenz drexciyanischer Sturmtruppen soundmässig erahnen. Mal expliziter als afrofuturistischer Bezug wie auf Ghetto Sketches (Mathematics, 2016) von Jamal Moss und Keith DeViere Donaldsons Projekt The Angel Race, oder natürlich DJ Stingray[5]. Mal als reine Fremdzuschreibung, als Phantasie oder Inspiration. Auf Thug Entrancers[6] Album Death After Life (Software, 2014) ist man versucht, hie und da eine drexciyanische TR-808 zu erwischen, dass einem in seinem allzu humanen Körper fast un-heimlich wird. Oder in einen auf 160bpm beschleunigten, digitalen Tsunami einzutauchen, der auf Jlins Dark Energy (Planet Mu, 2015) sein Unwesen treibt. Auf Nidia Minajs Album Danger (Principe Discos, 2015) werden synthetische Drums zu schweisstreibenden Alien-Animatoren. Und auf Moros Fusion-Projekt San Benito (NON, 2016) machen sich die ausserweltlichen Stimmen bemerkbar, die immer wieder aus den Meereswellen aufsteigen. Die Liste der Tracks, die man aktuell drexciyanisch hören kann, ist endlos. Was sie zusammen hält, ist stets ein kleiner, hartnäckiger Zweifel: Ist das immer noch Fiktion?

Mit Drexciya, DJ Stingray, Kodwo Eshun, Paul Gilroy, Jlin, Moro, Nidia Minaj, The Angel Race und Thug Entrancer

 

[1]Der Begriff Black Atlantic versucht, diejenigen Kulturpraxen und historischen Ereignisse zusammenzufassen, die aus der afrikanischen Diaspora hervorgegangen sind oder sich damit beschäftigen. Black Atlantic steht für eine Kultur des Hybriden, die sich klaren örtlichen und zeitlichen Zuschreibungen entzieht. Siehe dazu auch: Gilroy, Paul. The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Harvard University Press, Massachusetts, 1993

[2]Eshun, Kodwo: Heller als die Sonne. Abenteuer in Sonic Fiction, ID Verlag, Berlin, 1999, S.98

[3]Afrofuturismus kann – sehr verknappt – zusammengefasst werden, als eine Kunst- und Wissenschaftspraxis, die die Alienation schwarzer Körper in einer weissen Mehrheitsgesellschaft aufgreift und für sich selbst nutzbar macht, um auf eben jenen Zustand der Marginalisierung hinzuweisen beziehungsweise ihn zu überwinden.

[4]Eshun, Kodwo: Heller als die Sonne. Abenteuer in Sonic Fiction, ID Verlag, Berlin, 1999, S.100

[5] Siehe Interview mit DJ Stingray in zweikommasieben #15

[6] Siehe Interview mit Thug Entrancer in zweikommasieben #13

 

Dieser Text ist der erste der dreiteilig angelegten Kolumne Fiktion verorten von Anna Froelicher. Die Kolumne widmet sich der Verknüpfung von Musik, (Science Fiction-)Narration und Technologie und versucht diese stets in jenem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, der sinnvoll erscheint oder auf der Hand liegt. Der zweite Teil der Kolumne über «Die Spezies CDJ-2000» ist in zweikommasieben #15 erschienen und die dritte Kolumne «Mein T-Shirt im Feld» war Teil von zweikommasieben #17.