Einige Wochen vor dem Publikumserfolg im Uto Kino sitzt Anna Frei, eine der sieben Personen hinter OOR, am provisorischen Tisch im Plattenladen an der Anwandstrasse unweit des Helvetiaplatzes. Auf der von zwei Holzböcken getragenen Tischplatte in der Mitte des Lokals stehen eine Früchteschale, ein Wasserkrug mit Gläsern, sowie ein Stapel Faltflyer für besagte Veranstaltung. Frei reisst sorgfältig die eine Ecke der Flyer ein; so will es das grafische Konzept, das sie entworfen hat. Frei ist Grafikerin – wobei sich ihr Output zurzeit auf Arbeiten für OOR beschränkt. Mehr lässt die Zeit nicht zu: Sie arbeitet zwei Tage pro Woche im Kulturbüro an der Stauffacherstrasse, besetzt mindestens einen Tag den Plattenladen, organisiert Veranstaltungen wie Who Takes The Rap und performt als DJ und Sonic Researcherin, wie sie es selber nennt.
Auf einem der Plattenspieler im Laden dreht sich indes eine Dub-Techno-Scheibe. Dazu erzählt Frei mit Ostschweizer Akzent von der Entstehung des Ladens: Klemens Wempe, ein weiteres Mitglied des Kollektivs, habe gleichenorts während 15 Jahren den Plattenladen Sonic Records geführt und wollte diesen, da er ihn nicht länger alleine führen wollte, schliessen. Frei, eine Stammkundin, ergriff daraufhin die Initiative und schlug Wempe vor, den Laden mit weiteren Leuten, als Kollektiv organisiert zu führen. Einige Anrufe später, so Frei, und One’s Own Room – oder kurz: OOR – war geboren.
Nicht alle Mitglieder des Kollektivs kannten sich zu dem Zeitpunkt. Sie haben auch alle unterschiedliche Hintergründe: «Jemand arbeitet als Archivarin, andere kommen aus der Musik oder der Kunst», meint Frei. Damit ist etwa Sharon Ehbel, die als DJ aktiv ist, oder Sound Künstlerin und ZHdK-Dozentin Franziska Koch gemeint. Einen gemeinsamen Nenner gäbe es dennoch: Das Interesse an emanzipatorischer Praxis im weitesten Sinne. Bei den einen heisst das, auf queer-feministische Politiken zu fokussieren, andere widmen sich post-kolonialen Fragen, oder, wie im Falle von Georg Rutishauser, der neben seinem Engagement für OOR den Künstlerbuchverlag Edition Fink betreibt, geht es um Praxen rund um Self-Publishing.
Eine politisch-aktivistische Haltung soll dementsprechend bei OOR bis ins kleinste Detail wirken. So verweigern sich etwa die mit Platten gefüllten Regale im Laden der herkömmlichen Genrekategorisierung – statt «Hip-Hop», «Techno» oder «Reggae» finden sich grandios fabulierte Bezeichnungen wie «Deep Down Stomach Bass», «Feminist Killjoys» oder «Fucked Dub».
Einen Schwatz mit einer vorbeischlendernden Bekannten sowie eine selbstgedrehte Zigarette vor der Tür später erzählt Frei von ihrem langjährigen Wunsch nach einem Plattenladen, in dem nicht nur der Verkauf von Musik im Zentrum steht, sondern zusätzlich auch der theoretische und politische Diskurs. «Das hatte mir immer gefehlt», meint sie. Mit OOR wollen Frei und ihre Mitstreiter genau diese Lücke füllen.
OOR wirkt so auf verschiedenen Ebenen, wobei der Plattenladen das Zentrum aller Aktivitäten bildet. «Viele unserer Veranstaltungen finden im Laden statt, wo man von all diesem Material umgeben ist.» Frei zeigt auf die Platten, Bücher, Kassetten und Magazine, die in den schlichten weissen Regalen um sie herum eingeordnet sind. «Die Gäste sollen mit dem Material arbeiten können.» So etwa im Rahmen der Liner Note Readings, einem Projekt, das Frei in Zusammenarbeit mit der in Zürich wohnhaften, australischen Research-Künstlerin Sally Schonfeld entwickelt hat und das sie bald im Laden umsetzen will. Dabei sollen verschiedene Leute ausgehend von den Liner Notes einer Platte – also Begleittexten auf oder im Cover –, eine Mini-Recherche durchführen und die Resultate im Rahmen einer DJ-Lecture oder Lecture-Performance präsentieren. Diese Vorträge sollen dokumentiert und online gestellt oder auf einem Tonträger veröffentlicht werden.
Hat aber ein Plattenladen in Zeiten von Internetversand und Spotify überhaupt eine Zukunft oder wird es OOR bald so ergehen wie vielen ähnlichen Einrichtungen? «Es gibt immer mehr Verbindungslinien zu Leuten mit ähnlichen Interessen und Vorstellungen – innerhalb von Zürich wie auch im Ausland», zieht Frei ein vorläufiges Fazit nach gut zwei Jahren intensiven Arbeitens. Damit lassen sich aber keine Rechnungen bezahlen. Finanziell hält sich der Laden dennoch über Wasser – einerseits reiche der Umsatz gerade, um die Ladenmiete zu bezahlen, anderseits arbeiten die sieben Personen des Kollektivs allesamt unentgeltlich. Zudem unterstützt die städtische Kulturförderkommission die Veranstaltungen des Kollektivs, die unter dem Name OOR Saloon durchgeführt werden, finanziell.
Geld steht aber so oder so nicht im Zentrum: Sozialen Raum für neue Begegnungen und kritischen Musik-Diskurs zu schaffen, das ist das Hauptanliegen des OOR-Kollektivs. Und dem scheint Dienst geleistet zu werden: Zwar geht an diesem Nachmittag nicht viel über den Ladentisch, dafür wird umso mehr (und inniger) umarmt, geredet, Flyer ausgetauscht und Musik gehört. Und so lässt der stetige Strom von Besucherinnen hoffen, dass dieser Utopie noch ein langes Leben vergönnt sein wird.
Der Autor verlässt OOR mit zwei Tapes und zwei Platten:
- From A Flawed Apex Which Led To The Head (Where To Now?, 2015) von Jesse Osborne-Lanthier
- Compiled For OOR At Nectar, 2nd Tbilisi Triennale 2015 (OOR Editions, 2015) von Mika Motskobili & Datagramma
- Authentic Exoticism (SEXES, 2016) von Don’t DJ
- A Study Into 21st Century Drone Acoustics (Discrepant, 2015) von Gonçalo F Cardoso, Ruben Pater